342 Richard Wagner in Bayreuth
Von außergewöhnlicher Lernbegabung angetrieben (441), habe sich Wag-
ner durch sein fortgesetztes Studium eine „Fülle des Wissens" aus unterschied-
lichsten Disziplinen angeeignet und sei auf diese Weise „ein allseitiger Meister
der Musik und der Bühne" geworden (442). Anders als Goethe habe er seinen
Lernprozess dabei stets konsequent der „Stromgewalt" seines produktiven Wil-
lens untergeordnet und sich auch durch Bildung in „Historie und Philosophie"
nicht in seinem künstlerischen Tatendrang lähmen lassen (443). Mit dem „Ho-
heitsrecht des Schaffenden" erreiche er eine besondere „Wahrheit der Darstel-
lung" (443); zugleich unterscheide er sich beim Gebrauch des Historischen
fundamental von den Gepflogenheiten der Gelehrten und der epigonalen Zeit-
genossen, die dem Tempo der Moderne durch regressive Tendenzen auszuwei-
chen versuchten. Skeptisch beurteilt N. eine Situation, in der sich die intellek-
tuellen Energien eines Volkes vorrangig auf die Vergangenheit konzentrieren.
Denn diese Ausrichtung zeuge „von Erschlaffung, von Rück- und Hinfälligkeit"
(444). Nur starke „Naturen wie Wagner" (444) seien dazu imstande, eine sol-
che Rückwärtsorientierung zu vermeiden, die Geschichte konstruktiv zu nut-
zen und Wege zu einer neuen Form von Historie zu bahnen.
Nach N.s Ansicht verhält sich die zeitgenössische Geschichtsschreibung
als „verkappte christliche Theodicee" (445) bloß affirmativ zum historischen
Geschehen: Er meint, sie fungiere als „Opiat gegen alles Umwälzende und Er-
neuernde" (445) - ähnlich wie die Philosophie, wenn sie bloß „Einschläfe-
rungssäfte" biete (445) und dadurch denjenigen als Beruhigungsmittel und
Trost diene, die sich von den Rahmenbedingungen der modernen Realität
überfordert fühlten. N. hingegen erblickt die zentrale Aufgabe der Philosophie
darin, bestimmte Bereiche der Wirklichkeit als veränderbar zu erkennen, um
sich dann nachhaltig für praktische Verbesserungen zu engagieren. Seiner
Überzeugung zufolge soll die Philosophie zur Ausbildung eines unbeugsamen
Willens genutzt werden. Wagner selbst sei gerade „dort am meisten Philosoph,
wo er am thatkräftigsten und heldenhaftesten" handle (445).
4.
Am Anfang des 4. Kapitels (446-453) betont N. die Kürze der kulturgeschichtli-
chen Entwicklung seit der griechischen Antike, die zudem von zahlreichen
Stillständen und Regressionen gekennzeichnet sei. Für das letzte signifikante
historische Ereignis hält er die „Hellenisirung der Welt" und die parallel dazu
vollzogene „Orientalisirung des Hellenischen", die „Doppel-Aufgabe" Alexan-
ders des Großen (446). Noch heute sei der Geschichtsprozess vom Dualismus
dieser beiden Kulturen in ihrem „rhythmische[n] Spiel" bestimmt (446): Wäh-
Von außergewöhnlicher Lernbegabung angetrieben (441), habe sich Wag-
ner durch sein fortgesetztes Studium eine „Fülle des Wissens" aus unterschied-
lichsten Disziplinen angeeignet und sei auf diese Weise „ein allseitiger Meister
der Musik und der Bühne" geworden (442). Anders als Goethe habe er seinen
Lernprozess dabei stets konsequent der „Stromgewalt" seines produktiven Wil-
lens untergeordnet und sich auch durch Bildung in „Historie und Philosophie"
nicht in seinem künstlerischen Tatendrang lähmen lassen (443). Mit dem „Ho-
heitsrecht des Schaffenden" erreiche er eine besondere „Wahrheit der Darstel-
lung" (443); zugleich unterscheide er sich beim Gebrauch des Historischen
fundamental von den Gepflogenheiten der Gelehrten und der epigonalen Zeit-
genossen, die dem Tempo der Moderne durch regressive Tendenzen auszuwei-
chen versuchten. Skeptisch beurteilt N. eine Situation, in der sich die intellek-
tuellen Energien eines Volkes vorrangig auf die Vergangenheit konzentrieren.
Denn diese Ausrichtung zeuge „von Erschlaffung, von Rück- und Hinfälligkeit"
(444). Nur starke „Naturen wie Wagner" (444) seien dazu imstande, eine sol-
che Rückwärtsorientierung zu vermeiden, die Geschichte konstruktiv zu nut-
zen und Wege zu einer neuen Form von Historie zu bahnen.
Nach N.s Ansicht verhält sich die zeitgenössische Geschichtsschreibung
als „verkappte christliche Theodicee" (445) bloß affirmativ zum historischen
Geschehen: Er meint, sie fungiere als „Opiat gegen alles Umwälzende und Er-
neuernde" (445) - ähnlich wie die Philosophie, wenn sie bloß „Einschläfe-
rungssäfte" biete (445) und dadurch denjenigen als Beruhigungsmittel und
Trost diene, die sich von den Rahmenbedingungen der modernen Realität
überfordert fühlten. N. hingegen erblickt die zentrale Aufgabe der Philosophie
darin, bestimmte Bereiche der Wirklichkeit als veränderbar zu erkennen, um
sich dann nachhaltig für praktische Verbesserungen zu engagieren. Seiner
Überzeugung zufolge soll die Philosophie zur Ausbildung eines unbeugsamen
Willens genutzt werden. Wagner selbst sei gerade „dort am meisten Philosoph,
wo er am thatkräftigsten und heldenhaftesten" handle (445).
4.
Am Anfang des 4. Kapitels (446-453) betont N. die Kürze der kulturgeschichtli-
chen Entwicklung seit der griechischen Antike, die zudem von zahlreichen
Stillständen und Regressionen gekennzeichnet sei. Für das letzte signifikante
historische Ereignis hält er die „Hellenisirung der Welt" und die parallel dazu
vollzogene „Orientalisirung des Hellenischen", die „Doppel-Aufgabe" Alexan-
ders des Großen (446). Noch heute sei der Geschichtsprozess vom Dualismus
dieser beiden Kulturen in ihrem „rhythmische[n] Spiel" bestimmt (446): Wäh-