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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0372
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Überblickskommentar, Kapitel IV.5: Struktur 345

de" sieht N. die Kunst ihrer genuinen Würde beraubt. Geradezu entweiht werde
sie durch die Fixierung auf ästhetische Trivialbedürfnisse und brachiale Affek-
te (459-461). Seiner Ansicht nach hindert unauthentische Kunst den modernen
Menschen daran, sich sein Elend ehrlich einzugestehen: Da er nur noch die
Sprache der Konvention beherrsche und über Authentizität nicht mehr verfüge,
bleibe er zwangsläufig einem falschen Empfinden verhaftet.

6.
Anhand zweier Grundtendenzen versucht N. am Anfang des 6. Kapitels (462-
466) die Depravation menschlicher Empfindungen in der Gegenwart zu ver-
deutlichen. Für problematisch hält er sowohl den enormen Bedeutungszu-
wachs für den ökonomischen Bereich als auch die verbreitete Fixierung auf
das Augenblicksgeschehen, die eine Gier nach Zeitungsnachrichten stimuliere.
Sie lasse eine dubiose „Geistesgegenwart" zur modernen Tugend avancieren
(462), hinter der sich indes hemmungslose Begehrlichkeit und Neugierde ver-
bergen. Laut N. okkupieren diese Zeittendenzen die Seele des modernen Men-
schen. Nicht nur Theorien über Staat, Wirtschaft und Recht, sondern auch
„Weisheit und Kunst" der Vergangenheit (462) versuche man mit apologeti-
schem Interesse zu instrumentalisieren, um in der Gegenwart die eigenen Defi-
zite zu kaschieren. „Stumpfsinn oder Rausch! Einschläfern oder betäuben!"
(463): darin erblickt N. die entwürdigende Aufgabe der Kunst in der modernen
Gesellschaft. Um ihre „unentweihte Heiligkeit wiederherstellen" zu können
(463), bedürfe es einer Läuterungstat, die von der grossen Mehrheit der Men-
schen allerdings abgelehnt werde.
Vor dem Hintergrund dieser Kulturkritik stilisiert N. Wagner zum Heilsstif-
ter und Mysterienverkünder. Ausdrücklich preist er ihn als „neuen Lichtbrin-
ger", der die „Erlösung der Kunst" ermögliche (464). Mit pathetischer Rhetorik
lässt N. den Komponisten sogar im Gestus einer verpflichtenden Offenbarung
sprechen: „Ihr sollt durch meine Mysterien hindurch, ruft er ihnen zu, ihr
braucht ihre Reinigungen und Erschütterungen. Wagt es zu eurem Heil [...]"
(464). Das Erscheinen Wagners in dieser „erbärmlichen" Epoche hält N. nicht
für einen Zufall, sondern für „Fatum und Urgesetz" (464). Unermüdlich rufe er
dazu auf, sich den Mysterien seines Schaffens zu unterwerfen und dadurch zu
einer neuen Wirklichkeit, einer authentischeren Natur zu gelangen. In dem
Maße, wie Wagners Kunst auf Widerstände stoße, wachse proportional ihre
Kraft. Nach N.s Auffassung musste die Musik Wagners gerade in einer Zeit ent-
stehen, in der man sie zwar am wenigsten zu schätzen wusste, ihrer zugleich
aber am dringendsten bedurfte (466).
 
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