Überblickskommentar, Kapitel IV.6: Selbstaussagen Nietzsches 353
mußte. - Wenn ich nur hoffen dürfte, hier und da einen Klang Ihrer Freude
errathen und mit ausgedrückt zu haben! - Ich wüßte nichts Schöneres mir zu
wünschen" (KSB 5, Nr. 538, S. 174).
Im Jahrzehnt bis zur Publikation von Menschliches, Allzumenschliches II
hat sich N.s Perspektive auf UB IV Richard Wagner in Bayreuth längst funda-
mental verändert. Das zeigt die folgende Passage (KSA 2, 370, 19 - 371, 3), in
der N. eine aufschlussreiche psychologische Diagnose gibt; mit dem Hinweis
auf „Seite 46" rekurriert er hier ausdrücklich auf UB IV WB (KSA 1, 466, 27-28):
„Selbst meine Siegs- und Festrede zu Ehren Richard Wagner's, bei Gelegenheit seiner
Bayreuther Siegesfeier 1876 - Bayreuth bedeutet den grössten Sieg, den je ein Künstler
errungen hat - ein Werk, welches den stärksten Anschein der ,Aktualität' an sich trägt,
war im Hintergründe eine Huldigung und Dankbarkeit gegen ein Stück Vergangenheit
von mir, gegen die schönste, auch gefährlichste Meeresstille meiner Fahrt ... und that-
sächlich eine Loslösung, ein Abschiednehmen. (Täuschte Richard Wagner sich vielleicht
selbst darüber? Ich glaube es nicht. So lange man noch liebt, malt man gewiss keine
solchen Bilder; man ,betrachtet' noch nicht, man stellt sich nicht dergestalt in die Ferne,
wie es der Betrachtende thun muss. ,Zum Betrachten gehört schon eine geheimnisvolle
Gegnerschaft, die des Entgegenschauens' - heisst es auf Seite 46 der genannten
Schrift selbst, mit einer verrätherischen und schwermüthigen Wendung, welche vielleicht
nur für wenige Ohren war.) Die Gelassenheit, um über lange Zwischenjahre innerlichsten
Alleinseins und Entbehrens reden zu können, kam mir erst mit dem Buche ,Menschli-
ches, Allzumenschliches'".
Im Zusammenhang mit der eigenen zunehmenden Distanzierung von Wagners
Bayreuth-Projekt sieht N. seine „Schrift über Bayreuth" auch in einem Nach-
lass-Notat von 1878, wenn er UB IV WB als eine bloße „Pause, ein Zurücksin-
ken, Ausruhen" charakterisiert und erklärt: „Dort ging mir die Unnö-
thigkeit von Bayreuth für mich auf" (NL 1878, 27 [80], KSA 8, 500). Im Jahr
1885 schließlich blickt N. auf sein Bayreuther Erlebnis von 1876 zurück und
reflektiert zugleich eingehend die inneren Voraussetzungen von UB IV WB so-
wie den Stellenwert, den er dieser Schrift vom Standpunkt seiner späteren Jah-
re aus zuspricht (NL 1885, 34 [205], KSA 11, 491):
„Was Richard Wagner betrifft: so habe ich die Enttäuschung vom Sommer 1876 nicht über-
wunden, die Menge des Unvollkommenen, am Werke und am Menschen, war mir auf Ein
Mal zu groß: - ich lief davon. Später begriff ich, daß die gründlichste Loslösung von
einem Künstler die ist, daß man sein Ideal geschaut hat. Nach einem solchen Blicke,
wie ich ihn in jungen Jahren gethan habe - Zeugniß ist meine übriggebliebene kleine
Schrift über Richard Wagner - blieb mir nichts übrig, als, knirschend und außer mir, von
dieser ,unausstehlichen Wirklichkeit' - wie ich sie mit Einem Male sah - Abschied zu
nehmen. - Daß er, alt geworden, sich verwandelte, geht mich nichts an: fast alle Romanti-
ker dieser Art enden unter dem Kreuze - ich liebte nur den Wagner, den ich kannte, d. h.
einen rechtschaffnen Atheisten und Immoralisten, der die Figur Siegfrieds, eines sehr
mußte. - Wenn ich nur hoffen dürfte, hier und da einen Klang Ihrer Freude
errathen und mit ausgedrückt zu haben! - Ich wüßte nichts Schöneres mir zu
wünschen" (KSB 5, Nr. 538, S. 174).
Im Jahrzehnt bis zur Publikation von Menschliches, Allzumenschliches II
hat sich N.s Perspektive auf UB IV Richard Wagner in Bayreuth längst funda-
mental verändert. Das zeigt die folgende Passage (KSA 2, 370, 19 - 371, 3), in
der N. eine aufschlussreiche psychologische Diagnose gibt; mit dem Hinweis
auf „Seite 46" rekurriert er hier ausdrücklich auf UB IV WB (KSA 1, 466, 27-28):
„Selbst meine Siegs- und Festrede zu Ehren Richard Wagner's, bei Gelegenheit seiner
Bayreuther Siegesfeier 1876 - Bayreuth bedeutet den grössten Sieg, den je ein Künstler
errungen hat - ein Werk, welches den stärksten Anschein der ,Aktualität' an sich trägt,
war im Hintergründe eine Huldigung und Dankbarkeit gegen ein Stück Vergangenheit
von mir, gegen die schönste, auch gefährlichste Meeresstille meiner Fahrt ... und that-
sächlich eine Loslösung, ein Abschiednehmen. (Täuschte Richard Wagner sich vielleicht
selbst darüber? Ich glaube es nicht. So lange man noch liebt, malt man gewiss keine
solchen Bilder; man ,betrachtet' noch nicht, man stellt sich nicht dergestalt in die Ferne,
wie es der Betrachtende thun muss. ,Zum Betrachten gehört schon eine geheimnisvolle
Gegnerschaft, die des Entgegenschauens' - heisst es auf Seite 46 der genannten
Schrift selbst, mit einer verrätherischen und schwermüthigen Wendung, welche vielleicht
nur für wenige Ohren war.) Die Gelassenheit, um über lange Zwischenjahre innerlichsten
Alleinseins und Entbehrens reden zu können, kam mir erst mit dem Buche ,Menschli-
ches, Allzumenschliches'".
Im Zusammenhang mit der eigenen zunehmenden Distanzierung von Wagners
Bayreuth-Projekt sieht N. seine „Schrift über Bayreuth" auch in einem Nach-
lass-Notat von 1878, wenn er UB IV WB als eine bloße „Pause, ein Zurücksin-
ken, Ausruhen" charakterisiert und erklärt: „Dort ging mir die Unnö-
thigkeit von Bayreuth für mich auf" (NL 1878, 27 [80], KSA 8, 500). Im Jahr
1885 schließlich blickt N. auf sein Bayreuther Erlebnis von 1876 zurück und
reflektiert zugleich eingehend die inneren Voraussetzungen von UB IV WB so-
wie den Stellenwert, den er dieser Schrift vom Standpunkt seiner späteren Jah-
re aus zuspricht (NL 1885, 34 [205], KSA 11, 491):
„Was Richard Wagner betrifft: so habe ich die Enttäuschung vom Sommer 1876 nicht über-
wunden, die Menge des Unvollkommenen, am Werke und am Menschen, war mir auf Ein
Mal zu groß: - ich lief davon. Später begriff ich, daß die gründlichste Loslösung von
einem Künstler die ist, daß man sein Ideal geschaut hat. Nach einem solchen Blicke,
wie ich ihn in jungen Jahren gethan habe - Zeugniß ist meine übriggebliebene kleine
Schrift über Richard Wagner - blieb mir nichts übrig, als, knirschend und außer mir, von
dieser ,unausstehlichen Wirklichkeit' - wie ich sie mit Einem Male sah - Abschied zu
nehmen. - Daß er, alt geworden, sich verwandelte, geht mich nichts an: fast alle Romanti-
ker dieser Art enden unter dem Kreuze - ich liebte nur den Wagner, den ich kannte, d. h.
einen rechtschaffnen Atheisten und Immoralisten, der die Figur Siegfrieds, eines sehr