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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0383
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356 Richard Wagner in Bayreuth

Notat „Neue unzeitgemäße Betrachtung" zu erkennen (NL 1885, 41 [2],
KSA 11, 669). Sobald sich N. hier allerdings selbst konkret ins Spiel bringt, re-
duziert sich der kritische Impuls beim Blick auf den jugendlichen Subjektivis-
mus und macht einer Tendenz zu geistesaristokratischer Selbststilisierung
Platz (NL 1885, 41 [2], KSA 11, 670-671):
„Was ich selber einstmals, in meinen jungen Jahren', über Schopenhauer und Richard
Wagner schrieb und weniger schrieb als malte — vielleicht in einem allzuverwegenen
übermüthigen überjugendlichen al fresco — das will ich am wenigsten heute auf ,wahr'
und ,falsch' hin ins Einzelne prüfen. Gesetzt aber, ich hätte mich damals geirrt: mein
Irrthum gereicht zum Mindesten weder den Genannten, noch mir selber zur Unehre! Es
ist etwas, sich so zu irren; es ist auch etwas, gerade mich dergestalt zum Irrthum zu
verführen. Auch war es mir in jedem Falle eine unschätzbare Wohlthat, damals als ich
,den Philosophen' und ,den Künstler' und gleichsam meinen eigenen ,kategorischen Im-
perativ' zu malen beschloß, meine neuen Farben nicht ganz in's Unwirkliche hinein, son-
dern gleichsam auf vorgezeichnete Gestalten aufmalen zu können. Ohne daß ich es wuß-
te, sprach ich nur für mich, ja im Grunde nur von mir. Indessen: Alles, was ich damals
erlebt habe, das sind für eine gewisse Art von Menschen typische Erlebnisse, welchen zu
einem Ausdruck zu verhelfen -Und wer mit einer jungen und feurigen Seele jene
Schriften liest, wird vielleicht die schweren Gelöbnisse errathen, mit denen ich damals
mich für mein Leben band, - mit denen ich mich zu meinem Leben entschloß: möchte
er Einer jener Wenigen sein, die sich zu einem gleichen Leben und zu gleichen Gelöbnis-
sen entschließen - dürfe n!"
Analog entfaltet N. seine desillusionierte Retrospektive in einem Nachlass-No-
tat mit dem Titel „Vorrede": „Es liegt mir heute wenig daran, ob ich in Bezug
auf R<ichard> W<agner> und Schopenhauer Recht oder Unrecht gehabt habe:
habe ich mich geirrt, nun, mein Irrthum gereicht weder den Genannten, noch
mir selber zur Unehre. Gewiß ist, daß es mir, in jenen jungen Tagen, eine unge-
heure Wohlthat war, meine idealistischen Farben, in welchen ich die Bilder
<des> Philosophen und <des> Künstlers schaute, nicht ganz ins Unwirkliche,
sondern gleichsam auf vorgezeichnete Gestalten aufmalen zu können; und
wenn man mir den Vorwurf gemacht hat, daß ich die Genannten mit einem
vergrößernden Auge gesehen habe, so freue ich mich dieses Vorwurfs -
und meiner Augen noch dazu" (NL 1885, 35 [48], KSA 11, 534). Anschließend
relativiert N. den Wahrheitsanspruch als Wertungskriterium: „Was ich damals
geschrieben - und weniger geschrieben als gemalt habe, noch dazu hitzig
und [...] in einem nicht unbedenklichen und verwegenen Alfresco: das würde
dadurch noch nicht wahrer werden, daß ich es nunmehr [...] noch einmal
zarter, lautrer und strenger darstellte. Jedes Lebensalter versteht ,Wahrheit' auf
seine eigene Weise; und wer mit jungen und brausenden Sinnen und großen
Ansprüchen vor jene Gemälde tritt, wird an ihnen so viel Wahrheit finden, als
er zu sehn im Stande ist" (NL 1885, 35 [48], KSA 11, 534-535). - Das Prinzip des
 
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