358 Richard Wagner in Bayreuth
derum vergessen, daß seine ganze Musik für mich auf einige hundert Takte [...]
zusammengeschrumpft war, welche mir am Herzen lagen [...] - und nicht weni-
ger hatte ich vergessen über dem Bilde dieses Lebens - dieses mächtigen, in
eigenem Strome und gleichsam den Berg hinanströmenden Lebens - zu sagen,
was ich von Richard Wagner in Ansehung der Wahrheit hielt. Wer möchte
nicht gern anderer Meinung als Schopenhauer sein, habe ich immer gedacht -
im Ganzen und Großen: und wer könnte Einer M<einung> mit Richard Wag-
ner sein, im Ganzen und im Kleinen!" (NL 1880/81, 10 [B31], KSA 9, 418-419).
In Ecce homo deutet N. seine ursprünglichen Intentionen im Hinblick auf
UB III SE und UB IV WB acht Jahre später folgendermaßen: „Im Grunde wollte
ich mit diesen Schriften Etwas ganz Andres als Psychologie treiben: - ein Pro-
blem der Erziehung ohne Gleichen, ein neuer Begriff der Selbst-Zucht,
Selbst-Vertheidigung bis zur Härte, ein Weg zur Grösse und zu welthisto-
rischen Aufgaben verlangte nach seinem ersten Ausdruck" (KSA 6, 319, 26-31).
Und mehr noch: N. lässt sogar ein Bedürfnis nach emphatischer Selbstinsze-
nierung erkennen, wenn er Schopenhauer und Wagner, die beiden zentralen
Vorbildfiguren aus seiner Vergangenheit, in Ecce homo zu bloßen Etappen der
eigenen Entwicklung depotenziert. - Wie sehr N.s Strategie der Umdeutung
inzwischen darauf zielt, UB III SE und UB IV WB nachträglich für eine geniali-
sche Selbststilisierung in Anspruch zu nehmen, zeigt unverkennbar seine for-
cierte These: „Jetzt, wo ich aus einiger Ferne auf jene Zustände zurückblicke,
deren Zeugniss diese Schriften sind, möchte ich nicht verleugnen, dass sie im
Grunde bloss von mir reden. Die Schrift ,Wagner in Bayreuth' ist eine Vision
meiner Zukunft; dagegen ist in ,Schopenhauer als Erzieher' meine innerste
Geschichte, mein Werden eingeschrieben. Vor Allem mein Gelöbniss! ...
Was ich heute bin, wo ich heute bin - in einer Höhe, wo ich nicht mehr mit
Worten, sondern mit Blitzen rede - , oh wie fern davon war ich damals noch! -
Aber ich sah das Land, - ich betrog mich nicht einen Augenblick über Weg,
Meer, Gefahr - und Erfolg!" (KSA 6, 320, 6-17).
Solche nachträglichen Stilisierungen und Umdeutungen N.s schaffen mar-
kante Differenzen zum Text 100 der Fröhlichen Wissenschaft. Dort reflektiert er
in einem allgemeinen Kontext ambivalente Verhaltensweisen, die durch inner-
psychische Hemmnisse der Dankbarkeit verursacht sein können: Die Beobach-
tung, dass viele Menschen auffällig „ungeschickt und arm [...] im Ausdruck
ihrer Dankbarkeit sind", begründet N. psychologisch damit, dass diejenigen,
„auf welche gewirkt worden ist, sich im Grunde dadurch beleidigt fühlten und
ihre, wie sie fürchten, bedrohte Selbständigkeit nur in allerlei Unarten zu äus-
sern wüssten" (KSA 3, 457, 23 - 458, 1). - Im Hinblick auf Richard Wagner
scheint eine solche Disposition tendenziell auch bei N. selbst vorzuliegen - als
einer von mehreren Gründen dafür, dass er gegen seinen einstigen Freund
später so scharf polemisiert.
derum vergessen, daß seine ganze Musik für mich auf einige hundert Takte [...]
zusammengeschrumpft war, welche mir am Herzen lagen [...] - und nicht weni-
ger hatte ich vergessen über dem Bilde dieses Lebens - dieses mächtigen, in
eigenem Strome und gleichsam den Berg hinanströmenden Lebens - zu sagen,
was ich von Richard Wagner in Ansehung der Wahrheit hielt. Wer möchte
nicht gern anderer Meinung als Schopenhauer sein, habe ich immer gedacht -
im Ganzen und Großen: und wer könnte Einer M<einung> mit Richard Wag-
ner sein, im Ganzen und im Kleinen!" (NL 1880/81, 10 [B31], KSA 9, 418-419).
In Ecce homo deutet N. seine ursprünglichen Intentionen im Hinblick auf
UB III SE und UB IV WB acht Jahre später folgendermaßen: „Im Grunde wollte
ich mit diesen Schriften Etwas ganz Andres als Psychologie treiben: - ein Pro-
blem der Erziehung ohne Gleichen, ein neuer Begriff der Selbst-Zucht,
Selbst-Vertheidigung bis zur Härte, ein Weg zur Grösse und zu welthisto-
rischen Aufgaben verlangte nach seinem ersten Ausdruck" (KSA 6, 319, 26-31).
Und mehr noch: N. lässt sogar ein Bedürfnis nach emphatischer Selbstinsze-
nierung erkennen, wenn er Schopenhauer und Wagner, die beiden zentralen
Vorbildfiguren aus seiner Vergangenheit, in Ecce homo zu bloßen Etappen der
eigenen Entwicklung depotenziert. - Wie sehr N.s Strategie der Umdeutung
inzwischen darauf zielt, UB III SE und UB IV WB nachträglich für eine geniali-
sche Selbststilisierung in Anspruch zu nehmen, zeigt unverkennbar seine for-
cierte These: „Jetzt, wo ich aus einiger Ferne auf jene Zustände zurückblicke,
deren Zeugniss diese Schriften sind, möchte ich nicht verleugnen, dass sie im
Grunde bloss von mir reden. Die Schrift ,Wagner in Bayreuth' ist eine Vision
meiner Zukunft; dagegen ist in ,Schopenhauer als Erzieher' meine innerste
Geschichte, mein Werden eingeschrieben. Vor Allem mein Gelöbniss! ...
Was ich heute bin, wo ich heute bin - in einer Höhe, wo ich nicht mehr mit
Worten, sondern mit Blitzen rede - , oh wie fern davon war ich damals noch! -
Aber ich sah das Land, - ich betrog mich nicht einen Augenblick über Weg,
Meer, Gefahr - und Erfolg!" (KSA 6, 320, 6-17).
Solche nachträglichen Stilisierungen und Umdeutungen N.s schaffen mar-
kante Differenzen zum Text 100 der Fröhlichen Wissenschaft. Dort reflektiert er
in einem allgemeinen Kontext ambivalente Verhaltensweisen, die durch inner-
psychische Hemmnisse der Dankbarkeit verursacht sein können: Die Beobach-
tung, dass viele Menschen auffällig „ungeschickt und arm [...] im Ausdruck
ihrer Dankbarkeit sind", begründet N. psychologisch damit, dass diejenigen,
„auf welche gewirkt worden ist, sich im Grunde dadurch beleidigt fühlten und
ihre, wie sie fürchten, bedrohte Selbständigkeit nur in allerlei Unarten zu äus-
sern wüssten" (KSA 3, 457, 23 - 458, 1). - Im Hinblick auf Richard Wagner
scheint eine solche Disposition tendenziell auch bei N. selbst vorzuliegen - als
einer von mehreren Gründen dafür, dass er gegen seinen einstigen Freund
später so scharf polemisiert.