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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0386
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Überblickskommentar, Kapitel IV.6: Selbstaussagen Nietzsches 359

Aufschluss über eine eigene mentale Disposition dieser Art gibt ein Brief
vom 20. März 1882, in dem N. zwar selbstbewusst auf seine Werke zurückblickt,
dabei aber auch „die Dankbarkeit" als sein Problem diagnostiziert. Der Adres-
satin Elise Fincke teilt er mit: „Sie haben noch Alles von mir zu lesen. Jene
unzeitgemässen Betrachtungen rechne ich als Jugendschriften: Da machte ich
eine vorläufige Abrechnung mit dem was mich am meisten bis dahin im Leben
gehemmt und gefördert hatte, da versuchte ich von Einigem loszukommen,
dadurch dass ich es verunglimpfte oder verherrlichte wie es die Art der Jugend
ist -: Ach die Dankbarkeit im Guten und Bösen hat mir immer viel zu schaffen
gemacht! Immerhin - ich habe einiges Vertrauen in Folge dieser Erstlinge ein-
geerntet, auch bei Ihnen und den ausgezeichneten Genossen Ihrer Studien! All
dies Vertrauen werden Sie nöthig haben um mir auf meinen neuen und nicht
ungefährlichen Wegen zu folgen und zuletzt - wer weiss? wer weiss? - halten
auch Sie es nicht mehr aus und sagen was schon mancher gesagt hat: Mag er
laufen wohin ihm beliebt und sich den Hals brechen wenn's ihm beliebt"
(KSB 6, Nr. 212, S. 181). - In einem zwischen Herbst 1885 und Herbst 1886 ver-
fassten nachgelassenen Notat äußert sich N. zunächst selbstkritisch über den
Titel Unzeitgemässe Betrachtungen, relativiert seine skeptische Perspektive
dann allerdings, indem er selbstbewusst einen avantgardistischen Anspruch
erhebt und diesen sogar mit einem Superlativ artikuliert: „Wenn ich einstmals
das Wort ,unzeitgemäß' auf meine Bücher geschrieben habe, wie viel Jugend,
Unerfahrenheit, Winkel drückt sich in diesem Worte aus! Heute begreife ich,
daß mit dieser Art Klage Begeisterung und Unzufriedenheit ich eben damit zu
den Modernsten der Modernen gehörte" (NL 1885-1886, 2 [201], KSA 12, 165).
In Ecce homo geht N. im Kapitel „Warum ich so gute Bücher schreibe" nicht
erst im Abschnitt zu den Unzeitgemässen Betrachtungen auf UB IV WB ein, son-
dern zuvor auch bereits in dem Abschnitt, den er seiner Erstlingsschrift Die
Geburt der Tragödie gewidmet hat. Dort interpretiert N. den Namen ,Wagner'
in UB IV WB nachträglich als bloßen Platzhalter für sich selbst und seine Zara-
thustra-Figur, indem er behauptet: „an allen psychologisch entscheidenden
Stellen" von Richard Wagner in Bayreuth „ist nur von mir die Rede, - man darf
rücksichtslos meinen Namen oder das Wort ,Zarathustra' hinstellen, wo der
Text das Wort Wagner giebt" (KSA 6, 314, 3-6). Anschließend vollzieht N. in
diesem Sinne sogar eine symptomatische Umdeutung des dithyrambischen
Dramatikers zu einer impliziten Selbstcharakterisierung, wenn er erklärt: „Das
ganze Bild des dithyrambischen Künstlers ist das Bild des präexisten-
ten Dichters des Zarathustra, mit abgründlicher Tiefe hingezeichnet und ohne
einen Augenblick die Wagnersche Realität auch nur zu berühren. Wagner
selbst hatte einen Begriff davon; er erkannte sich in der Schrift nicht wieder"
(KSA 6, 314, 6-11). Dass diese Behauptung N.s unzutreffend ist, erhellt aller-
 
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