366 Richard Wagner in Bayreuth
derstrebendes Ringen" unter dem „Antrieb seines unerbittlichen Wahrheitswil-
lens": „Dieses Ringen" sei mit der Hoffnung verbunden gewesen, „auf Wagner
zu wirken: es war der Wille zu kämpfender Kommunikation" (ebd., 69). „Daß
Wagner sich für nichts interessierte, was nicht unmittelbar dem eigenen Werke
diente, daß Nietzsche seit 1873 schon die Gefahren des Wagnerschen Werkes,
die Möglichkeiten und faktischen Mängel sah, suchte Nietzsche leise zu über-
winden oder zu vergessen"; er wagte in UB IV WB „die liebende Kritik in der
Hoffnung, auf das Innerste in Wagner wirken zu können, und war daher in
der Sorge, seine Schrift möchte von Wagner ganz abgelehnt werden. Wagner
verstand jedoch nicht und hörte darin nur seine Verherrlichung" (ebd., 69).
Allerdings stellt Jaspers auch fest, dass „Nietzsches Kritik", die bereits „im
Januar 1874 in allem Wesentlichen" entfaltet war, „selbst in der Schrift ,R.
Wagner in Bayreuth' (1876) für den rückblickenden Leser deutlich erkennbar"
ist: „Diese Kritik muß, obgleich sie bei erstem Zusehen vernichtend scheint,
doch von einer Art sein, die die engste Verbindung mit dem so Kritisierten
nicht ausschließt" (ebd., 66). Direkt danach relativiert Jaspers N.s Kritik an
Wagner aber in erstaunlichem Maße, indem er ihre kulturdiagnostischen Impli-
kationen so sehr betont, dass die zentralen psychologischen Dimensionen des
Konflikts dahinter ganz verblassen. Indem Jaspers die individuelle Problematik
zwischen N. und Wagner (vgl. dazu das Kapitel IV.3 im Kommentar) vorschnell
zum Symptom der zeitgenössischen Krisensituation erklärt, hebt er sie tenden-
ziell in Epochenkritik auf: „Seine Kritik Wagners ist seine Kritik am Zeitalter.
Solange Nietzsche dem Zeitalter noch Vertrauen schenkt, in ihm eine Verwirkli-
chung neuer Kultur für möglich hält, steht er bei Wagner; sobald er das Zeital-
ter im ganzen als dem Ruin verfallen erblickt und die Erneuerung des Men-
schen aus ganz anderen Tiefenschichten sucht als der von Kunstwerk und
Theater, steht er gegen Wagner. Sofern Nietzsche selbst sich als dem Zeitalter
angehörig weiß, ist seine Wagnerkritik zugleich Kritik an sich selbst als dem
Wagnerianer" (ebd., 66). Hier ordnet Jaspers die individualpsychologischen
Motive und Perspektiven dem Primat kritischer Zeitdiagnose unter. Dabei er-
klärt er sogar: „An Wagner als dem Genius dieser Zeit wird Nietzsche gegen-
wärtig, was diese Zeit selbst ist. Solange er in Wagner einen neuen Äschylus
sieht, also das ihm Größte, was auf Erden möglich war, [...] glaubt er auch dem
Zeitalter. Sobald sein Maßstab von Wahrheit, Echtheit, Substanz sich gegen
Wagner infragestellend wendet, versinkt ihm das ganze Zeitalter" (ebd., 67).
Trotz der zeitkritischen Dimension verweist Jaspers aber auch auf einen Brief
N.s an Heinrich Köselitz alias Peter Gast (ebd., 68), in dem N. noch am 25. Juli
1882 gesteht: „mit einem wahren Schrecken bin ich mir wieder bewußt gewor-
den, wie nahe ich eigentlich mit W<agner> verwandt bin" (KSB 6, Nr. 272,
S. 231).
derstrebendes Ringen" unter dem „Antrieb seines unerbittlichen Wahrheitswil-
lens": „Dieses Ringen" sei mit der Hoffnung verbunden gewesen, „auf Wagner
zu wirken: es war der Wille zu kämpfender Kommunikation" (ebd., 69). „Daß
Wagner sich für nichts interessierte, was nicht unmittelbar dem eigenen Werke
diente, daß Nietzsche seit 1873 schon die Gefahren des Wagnerschen Werkes,
die Möglichkeiten und faktischen Mängel sah, suchte Nietzsche leise zu über-
winden oder zu vergessen"; er wagte in UB IV WB „die liebende Kritik in der
Hoffnung, auf das Innerste in Wagner wirken zu können, und war daher in
der Sorge, seine Schrift möchte von Wagner ganz abgelehnt werden. Wagner
verstand jedoch nicht und hörte darin nur seine Verherrlichung" (ebd., 69).
Allerdings stellt Jaspers auch fest, dass „Nietzsches Kritik", die bereits „im
Januar 1874 in allem Wesentlichen" entfaltet war, „selbst in der Schrift ,R.
Wagner in Bayreuth' (1876) für den rückblickenden Leser deutlich erkennbar"
ist: „Diese Kritik muß, obgleich sie bei erstem Zusehen vernichtend scheint,
doch von einer Art sein, die die engste Verbindung mit dem so Kritisierten
nicht ausschließt" (ebd., 66). Direkt danach relativiert Jaspers N.s Kritik an
Wagner aber in erstaunlichem Maße, indem er ihre kulturdiagnostischen Impli-
kationen so sehr betont, dass die zentralen psychologischen Dimensionen des
Konflikts dahinter ganz verblassen. Indem Jaspers die individuelle Problematik
zwischen N. und Wagner (vgl. dazu das Kapitel IV.3 im Kommentar) vorschnell
zum Symptom der zeitgenössischen Krisensituation erklärt, hebt er sie tenden-
ziell in Epochenkritik auf: „Seine Kritik Wagners ist seine Kritik am Zeitalter.
Solange Nietzsche dem Zeitalter noch Vertrauen schenkt, in ihm eine Verwirkli-
chung neuer Kultur für möglich hält, steht er bei Wagner; sobald er das Zeital-
ter im ganzen als dem Ruin verfallen erblickt und die Erneuerung des Men-
schen aus ganz anderen Tiefenschichten sucht als der von Kunstwerk und
Theater, steht er gegen Wagner. Sofern Nietzsche selbst sich als dem Zeitalter
angehörig weiß, ist seine Wagnerkritik zugleich Kritik an sich selbst als dem
Wagnerianer" (ebd., 66). Hier ordnet Jaspers die individualpsychologischen
Motive und Perspektiven dem Primat kritischer Zeitdiagnose unter. Dabei er-
klärt er sogar: „An Wagner als dem Genius dieser Zeit wird Nietzsche gegen-
wärtig, was diese Zeit selbst ist. Solange er in Wagner einen neuen Äschylus
sieht, also das ihm Größte, was auf Erden möglich war, [...] glaubt er auch dem
Zeitalter. Sobald sein Maßstab von Wahrheit, Echtheit, Substanz sich gegen
Wagner infragestellend wendet, versinkt ihm das ganze Zeitalter" (ebd., 67).
Trotz der zeitkritischen Dimension verweist Jaspers aber auch auf einen Brief
N.s an Heinrich Köselitz alias Peter Gast (ebd., 68), in dem N. noch am 25. Juli
1882 gesteht: „mit einem wahren Schrecken bin ich mir wieder bewußt gewor-
den, wie nahe ich eigentlich mit W<agner> verwandt bin" (KSB 6, Nr. 272,
S. 231).