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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0410
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Stellenkommentar UB IV WB 2, KSA 1, S. 436 383

lassen sich zahlreiche implizite Bezugnahmen N.s auf diesen polemischen Text
Schopenhauers eruieren, die im Kapitel III.4 des Überblickskommentars zu
UB III SE en detail nachgewiesen werden. Hervorzuheben ist dabei die poin-
tierte Gelehrtensatire, die N. in dieser Schrift präsentiert (KSA 1, 393-399). Ana-
log zu Schopenhauer betont auch N. die Opposition zwischen dem Genie und
dem Gelehrten (KSA 1, 399-401).
436, 26 Vielseitigkeit des modernen Lebens] Die von N. formulierte Perspektive
auf die zunehmende kulturelle Komplexität in der modernen Zivilisation findet
sich bereits in Gustav Gerbers zweibändigem Werk Die Sprache als Kunst (1871-
1874). Hier schreibt Gerber: „Die Welt erscheint zunächst der Wahrnehmung
als bloße Vielheit von Einzelheiten, deren zerstreutes und zerstreuendes
Gewirr ein ruhiges Erfassen hindert; wie auch in der Seele sich zuerst der bunte
Wechsel von Anregungen der Einheit des Selbstbewußtseins entgegenstellt
und das Verlangen nach Sammlung hervorruft" (Gerber 1871, Bd. 1, 22). N. hatte
dieses Werk Gerbers 1872/1873 aus der Basler Universitätsbibliothek entliehen
und zog es für seine nachgelassene Frühschrift Ueber Wahrheit und Lüge im
aussermoralischen Sinne heran.
436, 28-31 Das wunderbar strenge Urbild des Jünglings, den Siegfried im Ring
des Nibelungen, konnte nur ein Mann erzeugen und zwar ein Mann, der seine
eigene Jugend erst spät gefunden hat.] Eine gestrichene frühere Textpassage,
die zur Vorstufe gehört, rekurriert folgendermaßen auf Wagners Siegfried-
Figur: Dort ist die Rede von „Siegfried", den Wagner „als Urbild des Jünglings
für alle Zeiten hingestellt hat, heraus aus einer inneren Erfahrung vom Wesen
des Jüngling<s>" (KSA 14, 82). In der Vorstufe erklärt N., dass Wagners „physi-
sche Jugend lange hinter ihm" lag; „und doch wurde er damals erst jung und
blieb es sehr lange" (KSA 14, 82). Vgl. auch die Notiz: „[Und so möchte ich in
jenem vorher bezeichneten vordramatischen Theil vom Leben Wagner's eine
sonderbar verlängerte Kindheit erkennen, eine in tausend Dingen spielsüchtig
und spielselig verbrachte Kindheit, freilich in Dingen, die gewöhnlich gar nicht
in das [sic] Bereich von Kindern zu kommen pflegen]" (KSA 14, 83).
Wagners Siegfried-Figur entsprach in besonderem Maße dem Wunsch N.s
nach einer zukunftsweisenden kulturellen Veränderung. Schon in der Geburt
der Tragödie bringt er Wagners Siegfried mit der Utopie einer gesellschaftli-
chen Wiedergeburt in Verbindung: „Denken wir uns eine heranwachsende Ge-
neration mit dieser Unerschrockenheit des Blicks, mit diesem heroischen Zug
ins Ungeheure, denken wir uns den kühnen Schritt dieser Drachentödter, die
stolze Verwegenheit, mit der sie allen den Schwächlichkeitsdoctrinen jenes Op-
timismus den Rücken kehren, um im Ganzen und Vollen ,resolut zu leben'"
(KSA 1, 118, 34 - 119, 5). Zu Wagners Siegfried-Figur vgl. auch NK 443, 7 und
NK 506, 29 - 507, 3.
 
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