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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0412
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Stellenkommentar UB IV WB 2, KSA 1, S. 436-437 385

In seiner Schrift Der Fall Wagner (1888) interpretiert N. die Siegfried-Figur
später aus der Perspektive von Wagners ursprünglicher Revolutionsbegeiste-
rung: „Wagner hat, sein halbes Leben lang, an die Revolution geglaubt [...].
Er [...] glaubte in Siegfried den typischen Revolutionär zu finden. - ,Woher
stammt alles Unheil in der Welt?' fragte sich Wagner. Von ,alten Verträgen':
antwortete er, gleich allen Revolutions-Ideologen. Auf deutsch: von Sitten, Ge-
setzen, Moralen, Institutionen, von Alledem, worauf die alte Welt, die alte Ge-
sellschaft ruht. ,Wie schafft man das Unheil aus der Welt? Wie schafft man die
alte Gesellschaft ab?' Nur dadurch, dass man den Verträgen' (dem Herkom-
men, der Moral) den Krieg erklärt. Das thut Siegfried. Er beginnt früh
damit, sehr früh: seine Entstehung ist bereits eine Kriegserklärung an die Mo-
ral - er kommt aus Ehebruch, aus Blutschande zur Welt ... Nicht die Sage,
sondern Wagner ist der Erfinder dieses radikalen Zugs; an diesem Punkte hat
er die Sage corrigirt ... Siegfried fährt fort, wie er begonnen hat: [...] er wirft
alles Ueberlieferte, alle Ehrfurcht, alle Furcht über den Haufen. Was ihm
missfällt, sticht er nieder. Er rennt alten Gottheiten unehrerbietig wider den
Leib. Seine Hauptunternehmung aber geht dahin, [...] ,Brünnhilde zu erlösen'
... Siegfried und Brünnhilde; das Sakrament der freien Liebe; der Aufgang des
goldnen Zeitalters; die Götterdämmerung der alten Moral" (KSA 6, 19, 27 - 20,
18). Zur Thematik der Revolution sowie zu den revolutionären Aktivitäten Wag-
ners und deren Auswirkungen auf sein Kunstkonzept vgl. auch NK 448, 4-10;
451, 14-18; 475, 10-11; 476, 8-9; 504, 18-21; 504, 27-30; 508, 29-33.
Im Anschluss an Wagners Konzeption einer heroisch-autonomen Siegfried-
Figur verbindet N. in UB IV WB die Idealvorstellung von einem freien Men-
schen der Zukunft geradezu leitmotivisch mit dem Helden Siegfried. Dabei
greift er auf elementare Konstellationen aus Wagners Opern-Tetralogie Der
Ring des Nibelungen zurück, die einen solchen Zukunftshorizont bereits präfi-
gurieren. Zu den Figuren Siegfried und Brünnhilde vgl. die jeweils relevanten
Handlungszusammenhänge aus Wagners Opern Die Walküre, Siegfried und
Götterdämmerung, die den zweiten, dritten und vierten Teil seiner Tetralogie
Der Ring des Nibelungen bilden und die Voraussetzungen für die Liebe zwi-
schen Siegfried und Brünnhilde entstehen lassen: Zu Brünnhilde und Siegfried
vgl. NK 438, 4; NK 443, 7; NK 500, 21-22; 508, 33 - 509, 5; 509, 6-10.
437, 4-6 ein heftiger Wille in jäher Strömung, der gleichsam auf allen Wegen,
Höhlen und Schluchten an's Licht will und nach Macht verlangt] Im vorliegenden
Kontext spricht N. Wagner einen forcierten ,Willen zur Macht' zu, dessen Wir-
kungsradius er hier primär auf den künstlerischen Bereich beschränkt sieht,
während er ihn später zum existentiellen Grundtrieb erklärt. In Ecce homo
behauptet N. dann, er habe in UB IV WB eigene Charakteristika auf Wagner
projiziert: „Selbst psychologisch sind alle entscheidenden Züge meiner eignen
 
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