386 Richard Wagner in Bayreuth
Natur in die Wagners eingetragen - das Nebeneinander der lichtesten und
verhängnissvollsten Kräfte, der Wille zur Macht, wie ihn nie ein Mensch be-
sessen hat" (KSA 6, 314, 21-24). - An die Euphorion-Figur in Goethes Drama
Faust II erinnert die ursprüngliche Textversion der Vorstufe, in der N. Wag-
ners Naturell so beschreibt: „springend, kletternd, wild an die Wände stoßend
und flatternd; auf verborgenen Klippen wund geworden, friedlos, sich und
Andren zur Qual - so nimmt sich die eine Seite der Wagnerischen Natur jetzt
aus. Wie der holländische Seefahrer erschien er verdammt, auf dem Meere in
alle Ewigkeit rastlos umher zu segeln, den Fluch gegen das Dasein im Herzen"
(KSA 14, 83). Eine Variante des letzten Satzes lautet: „,Mir gab die Norn den
Geist der stets unbefriedigt ist' sagt er selber von sich" (KSA 14, 83). Die Nor-
nen fungieren in der germanischen Mythologie als Schicksalsgöttinnen.
Den im vorliegenden Zusammenhang exponierten Motivkomplex von
Strom und Strömung entfaltet N. in einer späteren Textpassage von UB IV WB
mit allegorischer Anschaulichkeit, um den leidenschaftlichen Rhythmus der
Wagnerschen Musik zu charakterisieren: „Wir spüren es schon zu Anfang, dass
wir widerstrebende einzelne Strömungen, aber auch über alle mächtig, einen
Strom mit Einer gewaltigen Richtung vor uns haben: dieser Strom bewegt sich
zuerst unruhig, über verborgene Felsenzacken hinweg, die Fluth scheint mit-
unter aus einander zu reissen, nach verschiedenen Richtungen hin zu wollen
[...]; und plötzlich, am Schluss, stürzt der Strom hinunter in die Tiefe, in seiner
ganzen Breite, mit einer dämonischen Lust an Abgrund und Brandung" (494,
12-23). Dieses allegorische Szenario, dessen Klimax hier der Wasserfall bildet,
überträgt N. anschließend auf Wagners Musikerpersönlichkeit: „Ungestüme,
widerstrebende Massen zu einfachen Rhythmen bändigen, durch eine verwir-
rende Mannichfaltigkeit von Ansprüchen und Begehrungen, Einen Willen
durchführen - Das sind die Aufgaben, zu welchen er sich geboren, in welchen
er seine Freiheit fühlt" (494, 26-30). - Bereits seit der literarischen Tradition
der Antike und dann vor allem in der Sturm-und-Drang-Periode war die meta-
phorische Identifikation des kreativen Genies mit einem wilden Strom als To-
pos präsent. Inwiefern N. Wagner als Genie apostrophierte, erhellt beispiels-
weise aus KSB 2, Nr. 604, S. 352 und KSB 3, Nr. 24, S. 46. Zur topologischen
Strom-Metaphorik im Kontext der Genieästhetik, für die Goethes Hymne Maho-
mets-Gesang ein repräsentatives Beispiel darstellt, vgl. die Angaben zum kultu-
rellen Kontext in NK 438, 28-30.
Auch in einem Nachlass-Notat von 1875 entfaltet N. die Strom-Metaphorik
mit auffallender Emphase; dabei korrespondiert die syntaktische Dynamik mit
dem voluntativen Impetus (NL 1875, 11 [42], KSA 8, 234): „Ein heftiger Wil-
le, der gleichsam auf allen Wegen, Höhlen und Schluchten ans Licht will,
springend, kletternd, fliegend, wild an die Wände stoßend und flatternd; eine
Natur in die Wagners eingetragen - das Nebeneinander der lichtesten und
verhängnissvollsten Kräfte, der Wille zur Macht, wie ihn nie ein Mensch be-
sessen hat" (KSA 6, 314, 21-24). - An die Euphorion-Figur in Goethes Drama
Faust II erinnert die ursprüngliche Textversion der Vorstufe, in der N. Wag-
ners Naturell so beschreibt: „springend, kletternd, wild an die Wände stoßend
und flatternd; auf verborgenen Klippen wund geworden, friedlos, sich und
Andren zur Qual - so nimmt sich die eine Seite der Wagnerischen Natur jetzt
aus. Wie der holländische Seefahrer erschien er verdammt, auf dem Meere in
alle Ewigkeit rastlos umher zu segeln, den Fluch gegen das Dasein im Herzen"
(KSA 14, 83). Eine Variante des letzten Satzes lautet: „,Mir gab die Norn den
Geist der stets unbefriedigt ist' sagt er selber von sich" (KSA 14, 83). Die Nor-
nen fungieren in der germanischen Mythologie als Schicksalsgöttinnen.
Den im vorliegenden Zusammenhang exponierten Motivkomplex von
Strom und Strömung entfaltet N. in einer späteren Textpassage von UB IV WB
mit allegorischer Anschaulichkeit, um den leidenschaftlichen Rhythmus der
Wagnerschen Musik zu charakterisieren: „Wir spüren es schon zu Anfang, dass
wir widerstrebende einzelne Strömungen, aber auch über alle mächtig, einen
Strom mit Einer gewaltigen Richtung vor uns haben: dieser Strom bewegt sich
zuerst unruhig, über verborgene Felsenzacken hinweg, die Fluth scheint mit-
unter aus einander zu reissen, nach verschiedenen Richtungen hin zu wollen
[...]; und plötzlich, am Schluss, stürzt der Strom hinunter in die Tiefe, in seiner
ganzen Breite, mit einer dämonischen Lust an Abgrund und Brandung" (494,
12-23). Dieses allegorische Szenario, dessen Klimax hier der Wasserfall bildet,
überträgt N. anschließend auf Wagners Musikerpersönlichkeit: „Ungestüme,
widerstrebende Massen zu einfachen Rhythmen bändigen, durch eine verwir-
rende Mannichfaltigkeit von Ansprüchen und Begehrungen, Einen Willen
durchführen - Das sind die Aufgaben, zu welchen er sich geboren, in welchen
er seine Freiheit fühlt" (494, 26-30). - Bereits seit der literarischen Tradition
der Antike und dann vor allem in der Sturm-und-Drang-Periode war die meta-
phorische Identifikation des kreativen Genies mit einem wilden Strom als To-
pos präsent. Inwiefern N. Wagner als Genie apostrophierte, erhellt beispiels-
weise aus KSB 2, Nr. 604, S. 352 und KSB 3, Nr. 24, S. 46. Zur topologischen
Strom-Metaphorik im Kontext der Genieästhetik, für die Goethes Hymne Maho-
mets-Gesang ein repräsentatives Beispiel darstellt, vgl. die Angaben zum kultu-
rellen Kontext in NK 438, 28-30.
Auch in einem Nachlass-Notat von 1875 entfaltet N. die Strom-Metaphorik
mit auffallender Emphase; dabei korrespondiert die syntaktische Dynamik mit
dem voluntativen Impetus (NL 1875, 11 [42], KSA 8, 234): „Ein heftiger Wil-
le, der gleichsam auf allen Wegen, Höhlen und Schluchten ans Licht will,
springend, kletternd, fliegend, wild an die Wände stoßend und flatternd; eine