400 Richard Wagner in Bayreuth
Im Hinblick auf die Diskrepanz zwischen Wagners tatsächlichen Fähigkeiten
und den von ihm intendierten Zielen spricht N. auch von „dramatische[n]
Nothbehelfe[n]" (441, 19). Insgesamt attestiert er Wagner eine Disposition zur
Maßlosigkeit, die sich sowohl in seinem Leben als auch in seiner Kunst
manifestiere. Bereits Anfang 1874, also im Vorfeld der Entstehungszeit von
UB IV WB, konstatiert N. in nachgelassenen Notizen die Maßlosigkeit Wagners,
die er zugleich auch als kompensatorischen Reflex charakterisiert. Die Konse-
quenzen für den künstlerischen Ausdruck beschreibt er folgendermaßen: „Er
sammelt alle wirksamen Elemente, in einer Zeit, die sehr rohe und starke
Mittel wegen ihrer Stumpfheit braucht. Das Prächtige Berauschende Verwirren-
de das Grandiose das Schreckliche Lärmende Hässliche Verzückte Nervöse Al-
les ist im Recht. Ungeheure Dimensionen, ungeheure Mittel" (NL 1874, 32 [57],
KSA 7, 774).
441, 22-25 Das Leben Wagner's, ganz aus der Nähe und ohne Liebe gesehen,
hat, um an einen Gedanken Schopenhauer's zu erinnern, sehr viel von der Comö-
die an sich, und zwar von einer merkwürdig grotesken.] N. stellt Wagner hier
wie eine Exemplifikation dessen dar, was Schopenhauer in der Welt als Wille
und Vorstellung so beschreibt: „Das Leben jedes Einzelnen ist, wenn man es im
Ganzen und Allgemeinen übersieht und nur die bedeutsamsten Züge heraus-
hebt, eigentlich immer ein Trauerspiel; aber im Einzelnen durchgegangen, hat
es den Charakter des Lustspiels. Denn das Treiben und die Plage des Tages,
die rastlose Neckerei des Augenblicks, das Wünschen und Fürchten der Wo-
che, die Unfälle jeder Stunde, mittelst des stets auf Schabernack bedachten
Zufalls, sind lauter Komödienscenen" (WWV I, § 58, Hü 380). Und in den Parer-
ga und Paralipomena II schreibt Schopenhauer: „Wenn man von der Betrach-
tung des Weltlaufs im Großen und zumal der reißend schnellen Succession der
Menschengeschlechter und ihres ephemeren Scheindaseyns sich hinwendet
auf das Detail des Menschenlebens, wie etwan die Komödie es darstellt;
so ist der Eindruck, den jetzt dieses macht, dem Anblick zu vergleichen, den,
mittelst des Sonnenmikroskops, ein von Infusionsthierchen wimmelnder Trop-
fen, oder ein sonst unsichtbares Häuflein Käsemilben gewährt, deren eifrige
Thätigkeit und Streit uns zum Lachen bringt. Denn, wie hier im engsten Raum,
so dort in der kürzesten Spanne Zeit, wirkt die große und ernstliche Aktivität
komisch" (PP II, Kap. 11, § 147, Hü 308).
Während das Lustspiel unterhaltsame Illusionen inszeniert, bloße Maskie-
rungen der kruden Realität, die durch kunstvolle Oberflächenpolitur die Ab-
gründigkeit willensbedingten Leidens zu kaschieren vermögen, verwirklicht
die Tragödie gemäß Schopenhauers Dramentheorie die ästhetischen Kon-
sequenzen seiner Willensmetaphysik. In der Welt als Wille und Vorstellung II
charakterisiert Schopenhauer Trauerspiel und Lustspiel zunächst kontrastiv:
Im Hinblick auf die Diskrepanz zwischen Wagners tatsächlichen Fähigkeiten
und den von ihm intendierten Zielen spricht N. auch von „dramatische[n]
Nothbehelfe[n]" (441, 19). Insgesamt attestiert er Wagner eine Disposition zur
Maßlosigkeit, die sich sowohl in seinem Leben als auch in seiner Kunst
manifestiere. Bereits Anfang 1874, also im Vorfeld der Entstehungszeit von
UB IV WB, konstatiert N. in nachgelassenen Notizen die Maßlosigkeit Wagners,
die er zugleich auch als kompensatorischen Reflex charakterisiert. Die Konse-
quenzen für den künstlerischen Ausdruck beschreibt er folgendermaßen: „Er
sammelt alle wirksamen Elemente, in einer Zeit, die sehr rohe und starke
Mittel wegen ihrer Stumpfheit braucht. Das Prächtige Berauschende Verwirren-
de das Grandiose das Schreckliche Lärmende Hässliche Verzückte Nervöse Al-
les ist im Recht. Ungeheure Dimensionen, ungeheure Mittel" (NL 1874, 32 [57],
KSA 7, 774).
441, 22-25 Das Leben Wagner's, ganz aus der Nähe und ohne Liebe gesehen,
hat, um an einen Gedanken Schopenhauer's zu erinnern, sehr viel von der Comö-
die an sich, und zwar von einer merkwürdig grotesken.] N. stellt Wagner hier
wie eine Exemplifikation dessen dar, was Schopenhauer in der Welt als Wille
und Vorstellung so beschreibt: „Das Leben jedes Einzelnen ist, wenn man es im
Ganzen und Allgemeinen übersieht und nur die bedeutsamsten Züge heraus-
hebt, eigentlich immer ein Trauerspiel; aber im Einzelnen durchgegangen, hat
es den Charakter des Lustspiels. Denn das Treiben und die Plage des Tages,
die rastlose Neckerei des Augenblicks, das Wünschen und Fürchten der Wo-
che, die Unfälle jeder Stunde, mittelst des stets auf Schabernack bedachten
Zufalls, sind lauter Komödienscenen" (WWV I, § 58, Hü 380). Und in den Parer-
ga und Paralipomena II schreibt Schopenhauer: „Wenn man von der Betrach-
tung des Weltlaufs im Großen und zumal der reißend schnellen Succession der
Menschengeschlechter und ihres ephemeren Scheindaseyns sich hinwendet
auf das Detail des Menschenlebens, wie etwan die Komödie es darstellt;
so ist der Eindruck, den jetzt dieses macht, dem Anblick zu vergleichen, den,
mittelst des Sonnenmikroskops, ein von Infusionsthierchen wimmelnder Trop-
fen, oder ein sonst unsichtbares Häuflein Käsemilben gewährt, deren eifrige
Thätigkeit und Streit uns zum Lachen bringt. Denn, wie hier im engsten Raum,
so dort in der kürzesten Spanne Zeit, wirkt die große und ernstliche Aktivität
komisch" (PP II, Kap. 11, § 147, Hü 308).
Während das Lustspiel unterhaltsame Illusionen inszeniert, bloße Maskie-
rungen der kruden Realität, die durch kunstvolle Oberflächenpolitur die Ab-
gründigkeit willensbedingten Leidens zu kaschieren vermögen, verwirklicht
die Tragödie gemäß Schopenhauers Dramentheorie die ästhetischen Kon-
sequenzen seiner Willensmetaphysik. In der Welt als Wille und Vorstellung II
charakterisiert Schopenhauer Trauerspiel und Lustspiel zunächst kontrastiv: