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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0431
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404 Richard Wagner in Bayreuth

glaubte ich daher den ,Mythos' bezeichnen zu müssen, dieses ursprünglich
namenlos entstandene Gedicht des Volkes, das wir zu allen Zeiten von den
großen Dichtern der vollendeten Kulturperioden immer wieder neu behandelt
antreffen; denn bei ihm verschwindet die konventionelle, nur der abstrakten
Vernunft erklärliche Form der menschlichen Verhältnisse fast vollständig, um
dafür nur das ewig Verständliche, rein Menschliche, aber eben in der unnach-
ahmlichen konkreten Form zu zeigen, welche jedem ächten Mythos seine so
schnell erkenntliche individuelle Gestalt verleiht" (GSD VII, 104-105).
Mit der Vorstellung vom „ursprünglich namenlos entstandene[n] Gedicht
des Volkes", mit der sein eigenes Verständnis des „Mythos" korrespondiert,
erweist sich Wagner als Erbe einer romantischen Ideologie des Volkes, wie sie
schon Herder propagierte. Vor allem seit der Romantik wurde die Idee des Vol-
kes durch die Volksmärchen-Sammlung der Brüder Grimm, durch Görres'
Sammlung von ,Volksbüchern' sowie durch Volkslieder populär. Als besonders
wirkungsmächtig erwies sich die durch Achim von Arnim und Clemens Brenta-
no erstmals in den Jahren 1805 bis 1808 publizierte Sammlung Des Knaben
Wunderhorn, die N. in der Geburt der Tragödie erwähnt (KSA 1, 49, 4-5).
442, 34 - 443, 4 Es ist wahr, ein solches Wesen wie das Goethe's hat und macht
mehr Behagen, es liegt etwas Mildes und Edel-Verschwenderisches um ihn herum,
während Wagner's Lauf und Stromgewalt vielleicht erschrecken und abschrecken
kann.] Bei der hier mit Wagner korrelierten Strom-Metaphorik, die N. an späte-
rer Stelle in allegorischer Anschaulichkeit ausgestaltet (494, 12-29), handelt es
sich um einen alten, bereits seit der Antike etablierten Topos für die kreative
Leidenschaft des Genies. Zum kulturhistorischen Hintergrund des Strom-
Motivs vgl. NK 438, 28-30. Zum Motivkomplex von Strom und Strömung als
allegorischer Figuration von Wagners musikalischem Gestaltungswillen vgl.
NK 437, 4-6. Auch „Sturm und Feuer" verbindet N. mit der „Leidenschaft"
Wagnerscher Musik (vgl. 493, 28-32). - Auf Goethe bezieht sich N. wiederholt
in seinen Werken und Notaten. In einem nachgelassenen Notat von 1871 etwa
stilisiert N. Wagner zum legitimen Nachfolger der Weimarer Klassiker, indem
er erklärt: „Wagner vollendet, was Schiller und Goethe begonnen haben"
(NL 1871, 9 [23], KSA 7, 280). Im vorliegenden Kontext von UB IV WB hingegen
lässt N. Goethe als Antipoden zu Wagner erscheinen. - Aufschlussreiche Ak-
zentverschiebungen und Umdeutungen bietet ein Nachlass-Notat von 1888:
„die Romantiker, welche alle [...] in Gefahr sind (mit Goethe zu reden) ,am
Wiederkäuen sittlicher und religiöser Absurditäten zu ersticken' / das Schiller-
sche an Wagner: er bringt ,leidenschaftliche Beredsamkeit, Pracht der Worte,
als Schwung edler Gesinnungen' - Legirung mit geringerem Metall [...]"
(NL 1888, 16 [36], KSA 13, 495). Im anschließenden Notat bezeichnet N. die
„Wirkung der Wagnerschen Kunst" als „centnerschwer" und führt sie auf „das
 
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