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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0434
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Stellenkommentar UB IV WB 3, KSA 1, S. 443 407

443, 25-30 Und werden nicht die Meistersinger noch zu den spätesten Zeiten
von dem deutschen Wesen erzählen, ja [...] werden sie nicht vielmehr eine der
reifsten Früchte jenes Wesens sein, das immer reformiren und nicht revolviren
will und das auf dem breiten Grunde seines Behagens auch das edelste Unbeha-
gen, das der erneuernden That, nicht verlernt hat?] Die Tradition der Meistersin-
ger bildete sich seit dem 15. und 16. Jahrhundert aus. Damals schlossen sich
Handwerker in verschiedenen süddeutschen Städten zu exklusiven Gesell-
schaften mit strengen Aufnahmeverfahren zusammen, um nach einem festen
Kanon komplizierter Regeln Lieder zu verfassen und sie öffentlich in Wettbe-
werben vorzutragen. Dabei stellte der Adept der Meisterkunst seine Regel-
kenntnis unter Beweis, indem er zunächst vorgegebene Lieder vortrug, dann
auch eigene Liedtexte zu vorgegebenen Melodien verfasste und schließlich
einen eigenen Liedtext mit eigener Melodie schrieb. Den sogenannten ,Mer-
kern' kam beim Sängerwettstreit die Funktion zu, die Übereinstimmung der
Lieder mit den etablierten Kunstregeln sicherzustellen und die Korrektheit von
Melodie und Reimschema zu prüfen. Ihren Höhepunkt erreichte die Kunst der
Meistersinger durch Hans Sachs (1494-1576), der neben einer Vielzahl anderer
Werke ungefähr 4400 Meisterlieder verfasste.
Richard Wagner gestaltete die Mittelalter-Szenerie in seiner Oper Die Meis-
tersinger von Nürnberg unter Rückgriff auf Quellenstudien zum Meistergesang
im Mittelalter; dabei folgte er zugleich dem romantischen Nürnberg-Mythos.
Spießbürgerliche Mentalität und künstlerische Blüte, skurrile Regelfixierung
und Ringen um Kreativität spielen hier ebenso eine Rolle wie die Utopie einer
wahren deutschen Kunst. Vor dem Hintergrund der etablierten Gesellschaft
führt Wagner in seiner Oper Hans Sachs und Walther von Stolzing als Protago-
nisten vor, die sich in unterschiedlichem Maße aufgeschlossen gegenüber neu-
en musikalischen Entwicklungen zeigen. Während Walther von Stolzing durch-
aus künstlerische Innovationen befürwortet, engagiert sich der Schusterpoet
Hans Sachs stärker für die Fortführung der ästhetischen Tradition der Meister-
singer; dabei tritt er für die Bewahrung überkommener Kunstformen ein.
Zur Thematik der kulturellen Tradition vgl. die kunstpolitische Pointe am
Ende des 3. Aktes von Wagners Oper Die Meistersinger von Nürnberg. Hier ist
die Berufung auf die Tradition der Meistersinger von zentraler Bedeutung. Zur
Handlung dieser Oper vgl. NK 438, 4. - Indem N. im vorliegenden Kontext vom
„deutschen Wesen" spricht, „das immer reformiren und nicht revolviren will",
greift er auf eine Aussage in Richard Wagners Beethoven-Festschrift von 1870
zurück. Hier erklärt Wagner lapidar: „So ist der Deutsche nicht revolutionär,
sondern reformatorisch" (GSD IX, 85).
443, 31-33 zu dieser Art des Unbehagens wurde Wagner immer wieder durch
sein Befassen mit Historie und Philosophie gedrängt: in ihnen fand er nicht nur
 
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