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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0437
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410 Richard Wagner in Bayreuth

rend der Entstehungszeit seiner Ring-Tetralogie und seiner Oper Tristan und
Isolde rezipierte Wagner affirmativ den Voluntarismus sowie die ethischen und
musikästhetischen Konzepte Schopenhauers.
Die Pluralität möglicher Perspektiven auf die komplexe moderne Wirklich-
keit gehörte zu N.s eigener Erfahrung und ließ ihn zu einem offenen, experi-
mentellen Denken tendieren. Schon in seiner frühen Schaffensphase distan-
zierte er sich von starren und dogmatischen Denksystemen, weil sie das
kreative Potential des Denkenden gefährden. Eines seiner nachgelassenen No-
tate aus dieser Zeit lautet: „Die ,Systeme' fressen sich auf" (NL 1872/73, 21 [6],
KSA 7, 524). Später erklärt N. in der Götzen-Dämmerung prononciert: „Ich miss-
traue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System
ist ein Mangel an Rechtschaffenheit" (KSA 6, 63, 8-9). Der Anspruch N.s auf
besondere Weite seines intellektuellen Horizonts geht aus einer Briefdisposi-
tion vom November 1882 hervor: „ich war auf Einmal / Philolog, Schriftsteller
Musiker Philosoph / Freidenker usw (vielleicht Dichter? usw)" (KSB 6, Nr. 336,
S. 282). Eine experimentelle Offenheit zeigt sich in N.s Werken vor allem durch
die Tendenz, bereits erreichte Denkpositionen wieder zu hinterfragen. Zu N.s
späterem Konzept einer ,Experimentalphilosophie' vgl. Volker Gerhardt 1986,
45-61. Zu dessen Situierung im Horizont wissenschaftlicher Paradigmenwech-
sel vgl. NK 396, 24 und NK 3/1, 382-384.
4.
446, 4 Die Geschichte der Entwickelung der Cultur seit den Griechen] Bereits in
der Geburt der Tragödie interpretiert N. die kulturelle Entwicklung als Prozess
einer Decadence, indem er den Verfall der griechischen Tragödie als Paradigma
einer Kulturtypologie darstellt. - Im Sinne Jacob Burckhardts vertritt N. den
Primat von Kultur, Geist und Bildung vor Staat und Religion. Dies gilt auch für
die von N. 1872 gehaltenen fünf Vorträge Über die Zukunft unserer Bildungsan-
stalten. Im dritten dieser Vorträge führt N. die „Überzahl von Bildungsanstal-
ten" darauf zurück, dass „der echte deutsche Geist gehaßt wird, weil man die
aristokratische Natur der wahren Bildung fürchtet", und ironisch grenzt er sich
von Konzepten einer „auf die Breite gegründete[n] Volksbildung und Volksauf-
klärung" ab, wenn er schreibt: „Ein neues Phänomen! Der Staat als Leitstern
der Bildung!" (KSA 1, 710, 12-15, 21-22). N.s Prognose lautet: „dieser deutsche
Geist, den man so bekämpft, [...] ist tapfer: er wird sich kämpfend in eine reine-
re Periode hindurchretten, er wird sich selbst, edel, wie er ist, und siegreich,
wie er sein wird, eine gewisse mitleidige Empfindung gegen das Staatswesen
bewahren, wenn dies in seiner Noth und auf das Äußerste bedrängt, eine sol-
che Pseudokultur als Bundesgenossen erfaßte" (KSA 1, 710, 22-29).
 
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