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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0448
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Stellenkommentar UB IV WB 4, KSA 1, S. 448 421

der Welt als Wille und Vorstellung II erklärt Schopenhauer, als ,Genie' bezeich-
ne man die „überwiegende Fähigkeit zu der [...] Erkenntnißweise, aus welcher
alle ächten Werke der Künste, der Poesie und selbst der Philosophie entsprin-
gen" (WWV II, Kap. 31, Hü 429-430). Die notwendige Voraussetzung für Genia-
lität sieht er „in einem abnormen Uebermaaß des Intellekts", das „auf das All-
gemeine des Daseyns verwendet wird" und so „dem Dienste des ganzen
Menschengeschlechts obliegt" (WWV II, Kap. 31, Hü 431). Zur Thematik der Ge-
nialität bei Schopenhauer vgl. auch NK 358, 29-33 und NK 386, 21-22.
N. problematisiert in UB III SE die Voraussetzungen für die Genese des Ge-
nies in einem sozialen Umfeld, das dem ,Genius' feindlich gegenübersteht und
ihm Hindernisse in den Weg legt, statt seine Entstehung durch günstige Vorbe-
dingungen zu fördern. Über die genialen Individuen schreibt er hier: „Diese
Einzelnen sollen ihr Werk vollenden - [...] und alle, die an der Institution theil-
nehmen, sollen bemüht sein, durch eine fortgesetzte Läuterung und gegensei-
tige Fürsorge, die Geburt des Genius und das Reifwerden seines Werks in sich
und um sich vorzubereiten" (KSA 1, 402, 34 - 403, 5). Von den Geniekonzepten
seiner Frühphase entfernt sich N. dann allerdings bereits in Menschliches, All-
zumenschliches.
448, 4-10 Wagner [...]. Man erwartet von ihm eine Reformation des Theaters:
gesetzt, dieselbe gelänge ihm, was wäre denn damit für jene höhere und ferne
Aufgabe gethan? / Nun, damit wäre der moderne Mensch verändert und refor-
mirt: so nothwendig hängt in unserer neueren Welt eins an dem andern, dass,
wer nur einen Nagel herauszieht, das Gebäude wanken und fallen macht.] Hier
reflektiert N. Wagners Intention auf umfassende Veränderungen in Kunst und
Kultur mit einer Radikalität, die eher an ,Revolution' als an ,Reformation' den-
ken lässt. N. folgt damit den Konzepten Richard Wagners, der in seiner Schrift
Die Kunst und die Revolution (GSD III, 8-41) von 1849 im Hinblick auf die Tra-
gödie erklärt: „Aber eben die Revolution, nicht etwa die Restauration,
kann uns jenes höchste Kunstwerk wiedergeben [...]" (GSD III, 30). An idealisti-
sche Traditionen anschließend, kontrastiert Wagner die moderne Zivilisation
mit dem antiken Griechentum: In der Antike setzt er eine harmonische Einheit
von Individuum und Gesellschaft voraus, in der modernen Zivilisation hinge-
gen deren Verlust sowie einen Antagonismus von privaten und öffentlichen
Interessen. Von einer ,großen Menschheitsrevolution' erhofft sich Wagner die
Überwindung dieser Kluft. Zur Thematik der Revolution und zu den Auswir-
kungen von Wagners revolutionären Aktivitäten auf sein Kunstkonzept vgl.
auch NK 451, 14-18; 475, 10-11; 476, 8-9; 504, 18-21; 504, 27-30; 508, 29-33.
Die Divergenzen zwischen Antike und Moderne betreffen laut Wagner auch
die Sphäre der Kunst: „Zur Zeit ihrer Blüte war die Kunst bei den Griechen
daher konservativ, weil sie dem öffentlichen Bewußtsein als ein gültiger
 
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