Stellenkommentar UB IV WB 4, KSA 1, S. 448-449 423
kommerzialisierten Kulturbetriebs, der mit „Vorführungen der allerverschie-
densten Art, aus den Gebieten der entgegengesetztesten Stilrichtungen" (GSD
VII, 275) zum Zweck des Profits triviale Unterhaltungsbedürfnisse des Publi-
kums bedient. Stattdessen sprach sich Wagner für eine Konzentration auf we-
nige Inszenierungen anspruchsvollerer Werke aus. - Dass seine Überlegungen
zum Spannungsfeld von Revolution und Reformation auch Vorstellungen von
Nationalcharakteristika einschließen, zeigt die Beethoven-Festschrift, in der
Wagner konstatiert: „So ist der Deutsche nicht revolutionär, sondern reforma-
torisch" (GSD IX, 85). N. nimmt auf diese Einschätzung Wagners Bezug, indem
er in UB IV WB vom „deutschen Wesen" spricht, „das immer reformiren und
nicht revolviren will" (443, 26, 28). Vgl. dazu auch NK 443, 25-30.
448, 25-32 Seltsame Trübung des Urtheils, schlecht verhehlte Sucht nach Er-
götzlichkeit, nach Unterhaltung um jeden Preis, gelehrtenhafte Rücksichten,
Wichtigthun und Schauspielerei mit dem Ernst der Kunst von Seiten der Ausfüh-
renden, brutale Gier nach Geldgewinn von Seiten der Unternehmenden, Hohlheit
und Gedankenlosigkeit einer Gesellschaft, welche an das Volk nur so weit denkt,
als es ihr nützt oder gefährlich ist, und Theater und Concerte besucht, ohne je
dabei an Pflichten erinnert zu werden] Hier konzentriert N. systematisch seine
Kritik am modernen Kulturbetrieb und greift dabei auf Wagners Schrift Die
Kunst und die Revolution (1849) zurück. Vgl. dazu konkreter NK 448, 4-10. Im
Anschluss an Wagner betont N. nicht allein in den Unzeitgemässen Betrachtun-
gen, sondern auch bereits in der Geburt der Tragödie wiederholt den ,Ernst'
der Kunst. Damit distanziert er sich von der Oberflächlichkeit des modernen
Kulturbetriebs, der primär auf Unterhaltungsbedürfnisse ausgerichtet und am
Profit orientiert ist.
449, 7 die einstmalige Wirklichkeit des griechischen Theaters] Ähnlich wie be-
reits Schiller in seiner Vorrede zur Braut von Messina, auf die sich N. in der
Geburt der Tragödie ausdrücklich beruft (KSA 1, 55, 12-18), sieht auch er selbst
die Lebenswelt der Griechen dadurch ausgezeichnet, dass in ihr Natur und
Kunst integriert und miteinander vermittelt sind. Vgl. NK 1/1, 46, 179.
449, 11-12 für Träumereien von Leuten, welche im Lande Nirgendsheim zu Hau-
se sind] In seinem dreiteiligen Roman Lichtenstein (1826) erwähnt Wilhelm
Hauff im 3. Kapitel einen Ort namens Nirgendsheim. Schon in Fischarts Ge-
schichtsklitterung ist „Nirgendheim" nachzuweisen. Gelegentlich wird auch
Thomas Morus' Utopia als „Nirgendheim" übersetzt. Nach N.s Auffassung ver-
bürgt die „Wirklichkeit des griechischen Theaters" (449, 7), dass Wagners Bay-
reuth-Projekt zur Realität werden kann, also keine bloße Wunschvorstellung
bleiben muss. In diesem Sinne schließt N. seine Abhandlung Das griechische
Musikdrama, die eine Vorstufe zur Geburt der Tragödie darstellt, mit der folgen-
kommerzialisierten Kulturbetriebs, der mit „Vorführungen der allerverschie-
densten Art, aus den Gebieten der entgegengesetztesten Stilrichtungen" (GSD
VII, 275) zum Zweck des Profits triviale Unterhaltungsbedürfnisse des Publi-
kums bedient. Stattdessen sprach sich Wagner für eine Konzentration auf we-
nige Inszenierungen anspruchsvollerer Werke aus. - Dass seine Überlegungen
zum Spannungsfeld von Revolution und Reformation auch Vorstellungen von
Nationalcharakteristika einschließen, zeigt die Beethoven-Festschrift, in der
Wagner konstatiert: „So ist der Deutsche nicht revolutionär, sondern reforma-
torisch" (GSD IX, 85). N. nimmt auf diese Einschätzung Wagners Bezug, indem
er in UB IV WB vom „deutschen Wesen" spricht, „das immer reformiren und
nicht revolviren will" (443, 26, 28). Vgl. dazu auch NK 443, 25-30.
448, 25-32 Seltsame Trübung des Urtheils, schlecht verhehlte Sucht nach Er-
götzlichkeit, nach Unterhaltung um jeden Preis, gelehrtenhafte Rücksichten,
Wichtigthun und Schauspielerei mit dem Ernst der Kunst von Seiten der Ausfüh-
renden, brutale Gier nach Geldgewinn von Seiten der Unternehmenden, Hohlheit
und Gedankenlosigkeit einer Gesellschaft, welche an das Volk nur so weit denkt,
als es ihr nützt oder gefährlich ist, und Theater und Concerte besucht, ohne je
dabei an Pflichten erinnert zu werden] Hier konzentriert N. systematisch seine
Kritik am modernen Kulturbetrieb und greift dabei auf Wagners Schrift Die
Kunst und die Revolution (1849) zurück. Vgl. dazu konkreter NK 448, 4-10. Im
Anschluss an Wagner betont N. nicht allein in den Unzeitgemässen Betrachtun-
gen, sondern auch bereits in der Geburt der Tragödie wiederholt den ,Ernst'
der Kunst. Damit distanziert er sich von der Oberflächlichkeit des modernen
Kulturbetriebs, der primär auf Unterhaltungsbedürfnisse ausgerichtet und am
Profit orientiert ist.
449, 7 die einstmalige Wirklichkeit des griechischen Theaters] Ähnlich wie be-
reits Schiller in seiner Vorrede zur Braut von Messina, auf die sich N. in der
Geburt der Tragödie ausdrücklich beruft (KSA 1, 55, 12-18), sieht auch er selbst
die Lebenswelt der Griechen dadurch ausgezeichnet, dass in ihr Natur und
Kunst integriert und miteinander vermittelt sind. Vgl. NK 1/1, 46, 179.
449, 11-12 für Träumereien von Leuten, welche im Lande Nirgendsheim zu Hau-
se sind] In seinem dreiteiligen Roman Lichtenstein (1826) erwähnt Wilhelm
Hauff im 3. Kapitel einen Ort namens Nirgendsheim. Schon in Fischarts Ge-
schichtsklitterung ist „Nirgendheim" nachzuweisen. Gelegentlich wird auch
Thomas Morus' Utopia als „Nirgendheim" übersetzt. Nach N.s Auffassung ver-
bürgt die „Wirklichkeit des griechischen Theaters" (449, 7), dass Wagners Bay-
reuth-Projekt zur Realität werden kann, also keine bloße Wunschvorstellung
bleiben muss. In diesem Sinne schließt N. seine Abhandlung Das griechische
Musikdrama, die eine Vorstufe zur Geburt der Tragödie darstellt, mit der folgen-