424 Richard Wagner in Bayreuth
den Bemerkung über das „antike Musikdrama" ab: „Wer aber bei seinem An-
blick an das Ideal des jetzigen Kunstreformators erinnert wird, der wird sich
zugleich sagen müssen, daß jenes Kunstwerk der Zukunft durchaus nicht etwa
eine glänzende, doch täuschende Luftspiegelung ist: was wir von der Zukunft
erhoffen, das war schon einmal Wirklichkeit - in einer mehr als zweitausend-
jährigen Vergangenheit" (KSA 1, 531, 33 - 532, 4).
Wenn sich N. in UB IV WB mit Nachdruck auf die „Thatsache von Bay-
reuth" beruft (449, 17), dann suggeriert er seinen Lesern eine optimistische
Einstellung zu Wagners Bayreuth-Projekt. Im Gegensatz zu dieser positiven
Einschätzung bringt N. in Briefen und nachgelassenen Notaten aus der Entste-
hungszeit von UB IV WB allerdings seine deutliche Skepsis im Hinblick auf
Wagners Erfolgschancen zum Ausdruck und formuliert zugleich kritische Ur-
teile über dessen Persönlichkeit. So äußert sich N. am 11. Februar 1874 in einem
Brief an Malwida von Meysenbug über das „Leiden um Bayreuth" und berich-
tet hier, er habe inzwischen „alle Gründe scharf geprüft, weshalb das Unter-
nehmen [...] vielleicht scheitert" (KSB 4, Nr. 344, S. 199). Vermutlich hätte er
den Tenor von UB IV WB erheblich verändert, wenn Wagners Bayreuth-Pläne
nicht erfolgreich gewesen wären. Indizien dafür bietet beispielsweise eine
zehnteilige Strukturskizze mit dem Titel „Richard Wagner in Bayreuth", die für
N.s wachsende Distanz zu Wagner symptomatisch ist: „1. Ursachen des Miss-
lingens. Darunter vor allem das Befremdende. Mangel an Sympathie für Wag-
ner. Schwierig, complicirt. / 2. Doppelnatur Wagner's. / 3. Affect Ekstase. Ge-
fahren [...] / 10. Das Befremden erklärt: vielleicht gehoben?" (NL 1874, 32 [18],
KSA 7, 760).
Auch seine Vorbehalte gegenüber der dominanten Persönlichkeit des Kom-
ponisten formuliert N. mit unmissverständlicher Deutlichkeit schon 1874 in
mehreren Nachlass-Notaten: „Wagner ist eine regierende Natur, nur dann in
seinem Elemente, nur dann gewiss mässig und fest: die Hemmung dieses Trie-
bes macht ihn unmässig, excentrisch, widerhaarig" (NL 1874, 32 [20], KSA 7,
761). Und diese Kritik forciert N. noch in der psychologischen Diagnose: „Die
,falsche Allmacht' entwickelt etwas ,Tyrannisches' in Wagner. Das Gefühl ohne
Erben zu sein - deshalb sucht er seiner Reformidee die möglichste Breite zu
geben und sich gleichsam durch Adoption fortzupflanzen. Streben nach Legiti-
mität. / Der Tyrann lässt keine andre Individualität gelten als die seinige und
die seiner Vertrauten" (NL 1874, 32 [32], KSA 7, 764-765). Charakterliche Defizi-
te attestiert N. dem Komponisten nicht nur, wenn er ihm einen „Tyrannensinn
für das Colossale" bescheinigt (NL 1874, 32 [34], KSA 7, 765), sondern auch,
wenn er erklärt: „Wagner beseitigt alle seine Schwächen, dadurch dass er sie
der Zeit und den Gegnern aufbürdet" (NL 1874, 32 [33], KSA 7, 765).
Auch in ästhetischer Hinsicht konstatiert N. eine fundamentale Problema-
tik, da er in Wagners Musiker-Naturell schon früh eine folgenreiche Präferenz
den Bemerkung über das „antike Musikdrama" ab: „Wer aber bei seinem An-
blick an das Ideal des jetzigen Kunstreformators erinnert wird, der wird sich
zugleich sagen müssen, daß jenes Kunstwerk der Zukunft durchaus nicht etwa
eine glänzende, doch täuschende Luftspiegelung ist: was wir von der Zukunft
erhoffen, das war schon einmal Wirklichkeit - in einer mehr als zweitausend-
jährigen Vergangenheit" (KSA 1, 531, 33 - 532, 4).
Wenn sich N. in UB IV WB mit Nachdruck auf die „Thatsache von Bay-
reuth" beruft (449, 17), dann suggeriert er seinen Lesern eine optimistische
Einstellung zu Wagners Bayreuth-Projekt. Im Gegensatz zu dieser positiven
Einschätzung bringt N. in Briefen und nachgelassenen Notaten aus der Entste-
hungszeit von UB IV WB allerdings seine deutliche Skepsis im Hinblick auf
Wagners Erfolgschancen zum Ausdruck und formuliert zugleich kritische Ur-
teile über dessen Persönlichkeit. So äußert sich N. am 11. Februar 1874 in einem
Brief an Malwida von Meysenbug über das „Leiden um Bayreuth" und berich-
tet hier, er habe inzwischen „alle Gründe scharf geprüft, weshalb das Unter-
nehmen [...] vielleicht scheitert" (KSB 4, Nr. 344, S. 199). Vermutlich hätte er
den Tenor von UB IV WB erheblich verändert, wenn Wagners Bayreuth-Pläne
nicht erfolgreich gewesen wären. Indizien dafür bietet beispielsweise eine
zehnteilige Strukturskizze mit dem Titel „Richard Wagner in Bayreuth", die für
N.s wachsende Distanz zu Wagner symptomatisch ist: „1. Ursachen des Miss-
lingens. Darunter vor allem das Befremdende. Mangel an Sympathie für Wag-
ner. Schwierig, complicirt. / 2. Doppelnatur Wagner's. / 3. Affect Ekstase. Ge-
fahren [...] / 10. Das Befremden erklärt: vielleicht gehoben?" (NL 1874, 32 [18],
KSA 7, 760).
Auch seine Vorbehalte gegenüber der dominanten Persönlichkeit des Kom-
ponisten formuliert N. mit unmissverständlicher Deutlichkeit schon 1874 in
mehreren Nachlass-Notaten: „Wagner ist eine regierende Natur, nur dann in
seinem Elemente, nur dann gewiss mässig und fest: die Hemmung dieses Trie-
bes macht ihn unmässig, excentrisch, widerhaarig" (NL 1874, 32 [20], KSA 7,
761). Und diese Kritik forciert N. noch in der psychologischen Diagnose: „Die
,falsche Allmacht' entwickelt etwas ,Tyrannisches' in Wagner. Das Gefühl ohne
Erben zu sein - deshalb sucht er seiner Reformidee die möglichste Breite zu
geben und sich gleichsam durch Adoption fortzupflanzen. Streben nach Legiti-
mität. / Der Tyrann lässt keine andre Individualität gelten als die seinige und
die seiner Vertrauten" (NL 1874, 32 [32], KSA 7, 764-765). Charakterliche Defizi-
te attestiert N. dem Komponisten nicht nur, wenn er ihm einen „Tyrannensinn
für das Colossale" bescheinigt (NL 1874, 32 [34], KSA 7, 765), sondern auch,
wenn er erklärt: „Wagner beseitigt alle seine Schwächen, dadurch dass er sie
der Zeit und den Gegnern aufbürdet" (NL 1874, 32 [33], KSA 7, 765).
Auch in ästhetischer Hinsicht konstatiert N. eine fundamentale Problema-
tik, da er in Wagners Musiker-Naturell schon früh eine folgenreiche Präferenz