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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0453
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426 Richard Wagner in Bayreuth

che Bedeutung hat für ihn auch in dieser Hinsicht Wagner, der für seine eige-
nen Werke immer wieder einen avantgardistischen Status beansprucht, indem
er das Neue gegenüber der Tradition, insbesondere gegenüber der Operntradi-
tion, betont und zugleich eine ,Reformation' im Sinne einer umfassenden exis-
tentiellen Erneuerung ankündigt.
449, 29-31 Ist nicht ein Hafen nach der wüsten Weite des Meeres gefunden,
liegt hier nicht Stille über den Wassern gebreitet?] Möglicherweise greift N. hier
paraphrasierend auf eine Formulierung Wagners zurück, die ebenfalls den See-
fahrtstopos enthält: „[...] um aus dem Ozean unendlichen Sehnens sein Schiff
nach dem Hafen der Erfüllung hinzuleiten?" (GSD III, 93).
449, 34 - 450, 1 „Wie ertrug ich's nur? Wie ertrag' ich's noch?"] Vgl. dazu Ri-
chard Wagners Tristan und Isolde, 2. Aufzug (GSD VII, 43). Zur Handlung dieser
Oper vgl. NK 438, 3-4.
450, 8-13 Denn einstweilen haben wir nur Einen Feind - einstweilen! - eben
jene „Gebildeten", für welche das Wort „Bayreuth" eine ihrer tiefsten Niederlagen
bezeichnet - sie haben nicht mitgeholfen, sie waren wüthend dagegen, oder zeig-
ten jene noch wirksamere Schwerhörigkeit, welche jetzt zur gewohnten Waffe der
überlegtesten Gegnerschaft geworden ist.] Nachdem N. im Anschluss an Auffas-
sungen Wagners schon in der Geburt der Tragödie die genuine ,Bildung' mit
bloßer ,Gebildetheit' kontrastiert hatte, integrierte er diese Gegenüberstellung
auch in die kulturkritischen Reflexionen der Unzeitgemässen Betrachtungen.
Im vorliegenden Kontext von UB IV WB greift N. auf Wagners Polemik gegen
die „Gebildeten" zurück, um die Gegner von Wagners Musik und seinem Bay-
reuth-Projekt zu attackieren. Dabei nimmt er auf Wertungen Bezug, die Richard
Wagner selbst in seiner Schrift Über das Dirigiren entfaltet hatte (vgl. GSD VIII,
313-315). In diesem Werk, das 1869 erschien und 1907 im Rahmen seiner Ge-
sammelten Schriften und Dichtungen dann postum erneut publiziert wurde,
bringt Wagner ,Bildung' und ,Gebildetheit' in eine Opposition, indem er die
„nichtige Gebildetheit" der „wahren Bildung" gegenüberstellt (vgl. GSD VIII,
313-315).
Richard Wagner, der sich selbst gern als Dirigent in Szene setzte, polemisiert
in der betreffenden Textpartie gegen die erfolgreichen Dirigenten jüdischer Her-
kunft in seiner Epoche, insbesondere gegen Felix Mendelssohn Bartholdy
(1809-1847), dessen Rezeption er durch antisemitisch motivierte Attacken nach-
haltig beeinträchtigte, so dass viele Zeitgenossen schon in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts das CEuvre von Mendelssohn Bartholdy unterschätzten. Im
selben Jahr, in dem Über das Dirigiren erschien, ließ Wagner sein früheres
Pamphlet Das Judenthum in der Musik in erweiterter Version erneut veröffentli-
chen, das er 1850 zunächst unter Pseudonym publiziert hatte. Da sich Wagner
 
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