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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0455
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428 Richard Wagner in Bayreuth

theilsfähigste[n] Volk der Welt" geworden zu sein (KSA 1, 205, 22). In UB I DS
kontrastiert N. das Defizitäre bloßer „Gebildetheit" mit seiner „Hoffnung auf
eine wirkliche ächte [sic] deutsche Bildung" (KSA 1, 161, 2-3). In UB III SE treibt
N. seine Polemik gegen die ,Gebildeten' bis zur Pathologisierung der kulturel-
len Krisensituation: „Der Gebildete ist zum grössten Feinde der Bildung abge-
artet, denn er will die allgemeine Krankheit weglügen und ist den Ärzten hin-
derlich" (KSA 1, 366, 18-20). Indem N. den ,Gebildeten' sogar als Bildungsfeind
etikettiert, unterstellt er ihm zugleich, er beeinträchtige die erforderlichen kri-
tisch-konstruktiven Zeitdiagnosen und blockiere dadurch auch künftige kultu-
relle Entwicklungen.
Zur Borniertheit der „gelehrten Stände" (KSA 1, 162, 4) gehört es nach N.s
Überzeugung, dass sie die „Sorge um die allgemeine deutsche Bildung" nicht
verstehen, weil sie „mit dem höchsten Grade von Sicherheit überzeugt [sind],
dass ihre eigene Bildung die reifste und schönste Frucht der Zeit, ja aller Zeiten
sei" (KSA 1, 162, 7-10). Zum Begriff ,Bildungsphilister', den N. sowohl in
UB I DS (KSA 1, 165, 6, 10) als auch in UB III SE (KSA 1, 352, 27) gebraucht, vgl.
die Belege in NK 165, 6. - Im Unterschied zur äußerlich bleibenden ,Gebildet-
heit' philiströser Geister, vor allem der ,Bildungsphilister', schließt echte ,Bil-
dung' nach N.s Auffassung eine zukunftsorientierte geistige Flexibilität mit ein.
So kontrastiert er in UB II HL die bloße Retrospektive der ,Gebildeten' auf die
Kulturgeschichte mit dem intellektuellen Zukunftspotential einer „reichen
und lebensvollen Bildung" (KSA 1, 307, 12-13), die wertvolle Impulse für
künftige Entwicklungen zu geben vermag. Den Geistesheroen früherer Kultur-
epochen, die er als kreativ ,Suchende' beschreibt (vgl. KSA 1, 167, 15), stellt
N. die ,Philister' seiner Gegenwart aufgrund ihrer leeren Bildungsprätention
diametral gegenüber. Ähnlich wie in UB I DS polemisiert N. auch in den Fünf
Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern gegen die „Gebildeten" und die
„Philister" (KSA 1, 779, 34 - 780, 2). In UB III SE forciert er seine Kritik am
Habitus der Gelehrten, die den Wert ihrer ,Gebildetheit' seines Erachtens er-
heblich überschätzen, bis zur Gelehrtensatire (vgl. KSA 1, 394, 20 - 400, 8).
Zugleich betont er den Antagonismus zwischen dem sterilen ,Gelehrten' und
dem kreativen ,Genius' (vgl. KSA 1, 399, 31 - 400, 8).
N.s Polemik gegen sterile „Gebildetheit" und gegen den sie repräsentieren-
den Typus des Gelehrten ist wesentlich auch biographisch motiviert: durch sei-
ne wachsenden Vorbehalte gegenüber dem eigenen Berufsstand des Philolo-
gen. So erwog N. schon Jahre vor der Konzeption seiner Unzeitgemässen
Betrachtungen aus Überdruss am Philologen-Beruf, sich in den Dienst von
Wagners kulturreformatorischem Großprojekt zu stellen. Das erhellt - nur an-
derthalb Jahre nach Amtsantritt an der Universität Basel - aus einem Brief an
Erwin Rohde, in dem N. am 15. Dezember 1870 den Wunsch artikuliert, das
 
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