Stellenkommentar UB IV WB 4, KSA 1, S. 450-451 431
Stimmung des Individuums, heißt aber so viel, als - den Staat ver-
nichten; denn der Staat schritt durch die Gesellschaft zur Verneinung der
freien Selbstbestimmung des Individuums vor, - von ihrem Tode lebte er. /
Für die Kunst, um die es bei dieser Untersuchung uns einzig zu thun war,
liegt in der Vernichtung des Staates nun folgendes, über Alles wichtige
Moment. / Die Darstellung des Kampfes [...]" (GSD IV, 66-67). Ein nachgelasse-
nes Notat von 1875 signalisiert, dass sich N. vorübergehend auch selbst mit
den revolutionären Ideen Wagners identifizierte; dort formuliert er die Devise:
„Nieder mit der Kunst, welche nicht in sich zur Revolution der Gesellschaft [...]
drängt!" (NL 1875, 11 [28], KSA 8, 218). Zur Thematik der Revolution sowie zu
den revolutionären Tendenzen Wagners und deren Folgen für seine Kunstkon-
zepte vgl. auch NK 448, 4-10; 475, 10-11; 476, 8-9; 504, 18-21; 504, 27-30; 508,
29-33.
451, 21-23 Der Blick, mit welchem uns das geheimnissvolle Auge der Tragödie
anschaut, ist kein erschlaffender und gliederbindender Zauber.] An dieser Stelle
greift N. auf Konzepte aus Schopenhauers Ästhetik zurück, deutet sie zugleich
aber in seinem Sinne um. Schopenhauers metaphorische Vorstellung, das
ästhetische Subjekt werde durch willenlose Kontemplation zum klaren „Welt-
auge" (WWV I, § 36, Hü 219; WWW II, Kap. 30, Hü 424), findet einen Reflex
bereits in der Geburt der Tragödie, wo N. erklärt, er könne „ohne Objectivität,
ohne reines interesseloses Anschauen nie an die geringste wahrhaft künstleri-
sche Erzeugung glauben" (KSA 1, 43, 4-6). An Schopenhauer schließt er hier
mit der Aussage an, dass der Genius, „völlig losgelöst von der Gier des Willens,
reines ungetrübtes Sonnenauge" sei (KSA 1, 51, 16-17).
Während Schopenhauer das Trauerspiel für das „Quietiv alles Wollens"
hält (WWV I, § 48, Hü 275), weil es die Zuschauer zur Resignation und zur Ver-
neinung des Willens zum Leben animiere, sieht N. die Funktion der Tragödie
im vorliegenden Kontext in einer „Ruhe", die nicht nur „Tröstung" ermöglicht,
sondern zugleich alle Kräfte für den anschließenden „Kampf" zu mobilisieren
vermag (451, 23-31). In diesem Sinne versucht N. bereits in UB IV WB aus der
ästhetischen Einstellung Potential für die Motivierung künftiger Handlungen
zu gewinnen.
Tendenzen dieser Art radikalisiert N. in späteren Werken, in denen er sich
sogar polemisch von den Prämissen von Schopenhauers Ästhetik und Tragödi-
entheorie distanziert. So betrachtet er die Tragödie wie die Kunst generell in
der Götzen-Dämmerung als „das grosse Stimulans zum Leben" (KSA 6, 127, 21-
22), schreibt ihr hier also eine vitalisierende Wirkung zu. Den „Begriff des tra-
gischen Gefühls" verbindet N. nun mit der „Psychologie des Orgiasmus als
eines überströmenden Lebens- und Kraftgefühls, innerhalb dessen selbst der
Schmerz noch als Stimulans wirkt" (KSA 6, 160, 6-9). Während Schopenhauer
Stimmung des Individuums, heißt aber so viel, als - den Staat ver-
nichten; denn der Staat schritt durch die Gesellschaft zur Verneinung der
freien Selbstbestimmung des Individuums vor, - von ihrem Tode lebte er. /
Für die Kunst, um die es bei dieser Untersuchung uns einzig zu thun war,
liegt in der Vernichtung des Staates nun folgendes, über Alles wichtige
Moment. / Die Darstellung des Kampfes [...]" (GSD IV, 66-67). Ein nachgelasse-
nes Notat von 1875 signalisiert, dass sich N. vorübergehend auch selbst mit
den revolutionären Ideen Wagners identifizierte; dort formuliert er die Devise:
„Nieder mit der Kunst, welche nicht in sich zur Revolution der Gesellschaft [...]
drängt!" (NL 1875, 11 [28], KSA 8, 218). Zur Thematik der Revolution sowie zu
den revolutionären Tendenzen Wagners und deren Folgen für seine Kunstkon-
zepte vgl. auch NK 448, 4-10; 475, 10-11; 476, 8-9; 504, 18-21; 504, 27-30; 508,
29-33.
451, 21-23 Der Blick, mit welchem uns das geheimnissvolle Auge der Tragödie
anschaut, ist kein erschlaffender und gliederbindender Zauber.] An dieser Stelle
greift N. auf Konzepte aus Schopenhauers Ästhetik zurück, deutet sie zugleich
aber in seinem Sinne um. Schopenhauers metaphorische Vorstellung, das
ästhetische Subjekt werde durch willenlose Kontemplation zum klaren „Welt-
auge" (WWV I, § 36, Hü 219; WWW II, Kap. 30, Hü 424), findet einen Reflex
bereits in der Geburt der Tragödie, wo N. erklärt, er könne „ohne Objectivität,
ohne reines interesseloses Anschauen nie an die geringste wahrhaft künstleri-
sche Erzeugung glauben" (KSA 1, 43, 4-6). An Schopenhauer schließt er hier
mit der Aussage an, dass der Genius, „völlig losgelöst von der Gier des Willens,
reines ungetrübtes Sonnenauge" sei (KSA 1, 51, 16-17).
Während Schopenhauer das Trauerspiel für das „Quietiv alles Wollens"
hält (WWV I, § 48, Hü 275), weil es die Zuschauer zur Resignation und zur Ver-
neinung des Willens zum Leben animiere, sieht N. die Funktion der Tragödie
im vorliegenden Kontext in einer „Ruhe", die nicht nur „Tröstung" ermöglicht,
sondern zugleich alle Kräfte für den anschließenden „Kampf" zu mobilisieren
vermag (451, 23-31). In diesem Sinne versucht N. bereits in UB IV WB aus der
ästhetischen Einstellung Potential für die Motivierung künftiger Handlungen
zu gewinnen.
Tendenzen dieser Art radikalisiert N. in späteren Werken, in denen er sich
sogar polemisch von den Prämissen von Schopenhauers Ästhetik und Tragödi-
entheorie distanziert. So betrachtet er die Tragödie wie die Kunst generell in
der Götzen-Dämmerung als „das grosse Stimulans zum Leben" (KSA 6, 127, 21-
22), schreibt ihr hier also eine vitalisierende Wirkung zu. Den „Begriff des tra-
gischen Gefühls" verbindet N. nun mit der „Psychologie des Orgiasmus als
eines überströmenden Lebens- und Kraftgefühls, innerhalb dessen selbst der
Schmerz noch als Stimulans wirkt" (KSA 6, 160, 6-9). Während Schopenhauer