Stellenkommentar UB IV WB 5, KSA 1, S. 454 439
wechsel veranlasste (vgl. dazu auch Kapitel IV.3 im Überblickskommentar). In
Oper und Drama hielt Wagner die Musik noch für ein bloßes Mittel, das in
den Dienst des dramatischen Ausdrucks zu stellen sei. Unter dem Einfluss von
Schopenhauers Musikphilosophie änderte Wagner seine Prämissen dann aller-
dings grundlegend: Nach seiner ästhetischen Neuorientierung betrachtete er
die Musik als ,das Allgemeine', das durch das Drama exemplifiziert werde. N.
charakterisiert die beiden diametral entgegengesetzten Positionen in einem
nachgelassenen Notat von 1874 folgendermaßen: „Wagner bezeichnet als den
Irrthum im Kunstgenre der Oper, dass ein Mittel des Ausdrucks, die Mu-
sik, zum Zwecke, der Zweck des Ausdrucks aber zum Mittel gemacht war. [...]
Mittel und Zweck - Musik und Drama - ältere Lehre. / Allgemeines und
Beispiel - Musik und Drama - neuere Lehre. / Ist die letztere wahr, so darf
das Allgemeine ganz und gar nicht abhängig vom Beispiel sein, d. h. die abso-
lute Musik ist im Recht, auch die Musik des Drama's muss absolute Musik sein"
(NL 1874, 32 [52], KSA 7, 770). Hier präferiert N. das spätere Credo Wagners, das
von Schopenhauers Musikästhetik beeinflusst ist, gegenüber den Positionen,
die Wagner früher in seinen Züricher Reformschriften vertreten hatte.
Wie sehr sich Wagner durch seine musikästhetische Neuorientierung in
eine Affinität zu Schopenhauer begibt, zeigen Thesen aus der Welt als Wille
und Vorstellung. Im Hinblick auf die Synthese von Poesie und Musik in Lied
und Oper erklärt Schopenhauer, „die Tonkunst" zeige ihr besonderes Wir-
kungspotential dadurch, dass sie „das eigentliche und wahre Wesen" von
Empfindung und Handlung ausspreche und insofern „die innerste Seele der
Vorgänge und Begebenheiten" offenbare, „deren bloße Hülle und Leib die Büh-
ne darbietet. Hinsichtlich dieses Uebergewichts der Musik [...] möchte es viel-
leicht passender scheinen, daß der Text zur Musik gedichtet würde, als daß
man die Musik zum Texte komponirt" (WWV II, Kap. 39, Hü 513). Vgl. auch
NK 458, 12 und NK 488, 24-33. - In der Geburt der Tragödie (KSA 1, 103, 32 -
104, 6) zitiert N. Schopenhauers These aus der Welt als Wille und Vorstellung,
die Musik sei „darin von allen andern Künsten verschieden, daß sie nicht Ab-
bild der Erscheinung [...], sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst ist
und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erschei-
nung das Ding an sich darstellt" (WWV I, § 52, Hü 310). Im Kontext dieser Aus-
sage erklärt Schopenhauer: „Die Musik ist demnach [...] eine im höchsten Grad
allgemeine Sprache" (WWV I, § 52, Hü 309). Inwiefern das ,Allgemeine' der
Musik in Wagners späteren musikästhetischen Konzepten ins Zentrum rückt,
geht aus dem oben zitierten Nachlass-Notat N.s von 1874 hervor.
Wagners ,Konversion', also sein ,Übertreten' vom „Glauben" an eine in-
strumentelle Funktion der Musik für das Drama zu „seinem späteren ästheti-
schen Glauben" an die Musikphilosophie Schopenhauers, beschreibt N. in sei-
wechsel veranlasste (vgl. dazu auch Kapitel IV.3 im Überblickskommentar). In
Oper und Drama hielt Wagner die Musik noch für ein bloßes Mittel, das in
den Dienst des dramatischen Ausdrucks zu stellen sei. Unter dem Einfluss von
Schopenhauers Musikphilosophie änderte Wagner seine Prämissen dann aller-
dings grundlegend: Nach seiner ästhetischen Neuorientierung betrachtete er
die Musik als ,das Allgemeine', das durch das Drama exemplifiziert werde. N.
charakterisiert die beiden diametral entgegengesetzten Positionen in einem
nachgelassenen Notat von 1874 folgendermaßen: „Wagner bezeichnet als den
Irrthum im Kunstgenre der Oper, dass ein Mittel des Ausdrucks, die Mu-
sik, zum Zwecke, der Zweck des Ausdrucks aber zum Mittel gemacht war. [...]
Mittel und Zweck - Musik und Drama - ältere Lehre. / Allgemeines und
Beispiel - Musik und Drama - neuere Lehre. / Ist die letztere wahr, so darf
das Allgemeine ganz und gar nicht abhängig vom Beispiel sein, d. h. die abso-
lute Musik ist im Recht, auch die Musik des Drama's muss absolute Musik sein"
(NL 1874, 32 [52], KSA 7, 770). Hier präferiert N. das spätere Credo Wagners, das
von Schopenhauers Musikästhetik beeinflusst ist, gegenüber den Positionen,
die Wagner früher in seinen Züricher Reformschriften vertreten hatte.
Wie sehr sich Wagner durch seine musikästhetische Neuorientierung in
eine Affinität zu Schopenhauer begibt, zeigen Thesen aus der Welt als Wille
und Vorstellung. Im Hinblick auf die Synthese von Poesie und Musik in Lied
und Oper erklärt Schopenhauer, „die Tonkunst" zeige ihr besonderes Wir-
kungspotential dadurch, dass sie „das eigentliche und wahre Wesen" von
Empfindung und Handlung ausspreche und insofern „die innerste Seele der
Vorgänge und Begebenheiten" offenbare, „deren bloße Hülle und Leib die Büh-
ne darbietet. Hinsichtlich dieses Uebergewichts der Musik [...] möchte es viel-
leicht passender scheinen, daß der Text zur Musik gedichtet würde, als daß
man die Musik zum Texte komponirt" (WWV II, Kap. 39, Hü 513). Vgl. auch
NK 458, 12 und NK 488, 24-33. - In der Geburt der Tragödie (KSA 1, 103, 32 -
104, 6) zitiert N. Schopenhauers These aus der Welt als Wille und Vorstellung,
die Musik sei „darin von allen andern Künsten verschieden, daß sie nicht Ab-
bild der Erscheinung [...], sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst ist
und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erschei-
nung das Ding an sich darstellt" (WWV I, § 52, Hü 310). Im Kontext dieser Aus-
sage erklärt Schopenhauer: „Die Musik ist demnach [...] eine im höchsten Grad
allgemeine Sprache" (WWV I, § 52, Hü 309). Inwiefern das ,Allgemeine' der
Musik in Wagners späteren musikästhetischen Konzepten ins Zentrum rückt,
geht aus dem oben zitierten Nachlass-Notat N.s von 1874 hervor.
Wagners ,Konversion', also sein ,Übertreten' vom „Glauben" an eine in-
strumentelle Funktion der Musik für das Drama zu „seinem späteren ästheti-
schen Glauben" an die Musikphilosophie Schopenhauers, beschreibt N. in sei-