Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0471
License: In Copyright
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
444 Richard Wagner in Bayreuth

Frühschrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. Hier setzt
er sich kritisch mit der Ansicht auseinander, dass „die Sprache der adäquate
Ausdruck aller Realitäten" sei (KSA 1, 878, 15-16), und konstatiert stattdessen
den arbiträren Charakter der Sprache: „Wir theilen die Dinge nach Geschlech-
tern ein, wir bezeichnen den Baum als männlich, die Pflanze als weiblich: wel-
che willkürlichen Übertragungen! Wie weit hinausgeflogen über den Canon der
Gewissheit! Wir reden von einer Schlange: die Bezeichnung trifft nichts als das
Sichwinden, könnte also auch dem Wurme zukommen. Welche willkürlichen
Abgrenzungen, welche einseitigen Bevorzugungen bald der bald jener Eigen-
schaft eines Dinges! Die verschiedenen Sprachen neben einander gestellt zei-
gen, dass es bei den Worten nie auf die Wahrheit, nie auf einen adäquaten
Ausdruck ankommt: denn sonst gäbe es nicht so viele Sprachen" (KSA 1, 878,
30 - 879, 5). Vgl. auch NK 455, 14-21 und NK 455, 25-26. - N.s Einschätzungen
zeigen Affinitäten zu Sprachreflexionen Richard Wagners, der in seiner Schrift
Oper und Drama erklärt: „Diese Sprache beruht vor unserem Gefühle somit auf
einer Konvention [...] Wir können nach unserer innersten Empfindung in
dieser Sprache gewissermaßen nicht mitsprechen [...] und ganz folgerichtig
suchte sich daher in unserer modernen Entwickelung das Gefühl aus der abso-
luten Verstandessprache in die absolute Tonsprache, unsere heutige Musik, zu
flüchten" (GSD IV, 98).
456, 3-7 [...] im Kampfe mit einer Bildung, welche ihr Gelingen nicht damit zu
beweisen glaubt, dass sie deutlichen Empfindungen und Bedürfnissen bildend
entgegenkomme, sondern damit, dass sie das Individuum in das Netz der „deutli-
chen Begriffe" einspinne und richtig denken lehre] Kurz zuvor hat N. die abstrak-
ten Begriffe im Namen des lebendigen Gefühls bereits abgewertet. Nicht ein
Rezept, um „richtig denken" zu können, ist für N. das Entscheidende, sondern
die „richtige Empfindung" (456, 13). Mit seinen Aussagen zum „Netz der
,deutlichen Begriffe"', in das eine fehlgeleitete Bildung die Menschen einspin-
ne, um sie - wie N. ironisch bemerkt - „richtig denken" zu lehren, distanziert
er sich von der Tradition des neuzeitlichen Rationalismus und damit auch von
Rene Descartes als ihrem Begründer. Direkt nach dem obigen Lemma-Zitat geht
dies aus der skeptischen Überlegung hervor: „als ob es irgend einen Werth
hätte, Jemanden zu einem richtig denkenden und schliessenden Wesen zu ma-
chen, wenn es nicht gelungen ist, ihn vorher zu einem richtig empfindenden
zu machen" (456, 7-10).
Die Metaphorik des Netzes und des Spinnens verwendet N. in seinen Wer-
ken wiederholt: In der nachgelassenen Frühschrift Ueber Wahrheit und Lüge
im aussermoralischen Sinne beschreibt er den Menschen als „gewaltiges Bauge-
nie", weil ihm „das Aufthürmen eines unendlich complicirten Begriffsdomes
gelingt", der seine Haltbarkeit der Zartheit und Festigkeit von Elementen „wie
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften