Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0472
License: In Copyright
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Stellenkommentar UB IV WB 5, KSA 1, S. 456 445

aus Spinnefäden" verdankt (KSA 1, 882, 24-28). Zur (Spinnen)Netzmetapher
bei N. gibt es etliche Belege, vgl. z. B. KSA 1, 313, 354, 885, 887; KSA 5, 369;
KSA 7, 101; KSA 8, 113, 335 (vgl. dazu Neymeyr 2014a, 237-238, 246-247). In der
Götzen-Dämmerung problematisiert N. rationalistische Tendenzen einer philo-
sophischen Metaphysik: Indem die „Begriffs-Götzendiener" ihre Gegenstände
„enthistorisiren, sub specie aeterni", bringen sie „seit Jahrtausenden" bloße
„Begriffs-Mumien" hervor: „Sie tödten, sie stopfen aus [...], wenn sie anbe-
ten, - sie werden Allem lebensgefährlich, wenn sie anbeten" (KSA 6, 74, 6-12);
dabei gehen sie von dem Glauben aus, „alle höchsten Begriffe, das Seiende,
das Unbedingte, das Gute, das Wahre" müssten „causa sui sein" (KSA 6, 76,
24-26). N. pathologisiert Philosophen dieser Art, indem er ihnen sogar pole-
misch die „Gehirnleiden kranker Spinneweber" zuschreibt (KSA 6, 76, 30-31).
Als Begründer des frühneuzeitlichen Rationalismus, von dem sich N. im
vorliegenden Kontext distanziert, gilt Rene Descartes (1596-1650), dessen Me-
ditationes de prima philosophia (1641) von einer skeptisch reflektierenden
Grundhaltung bestimmt sind. In der vierten dieser Meditationes, die den Titel
„De vero et falso" trägt, untersucht Descartes die Problematik fehlerhafter
(auch voluntativ beeinflusster und verfälschter) Schlüsse infolge von Urteilen
über Dinge, die der Verstand nicht klar einzusehen vermag. Um zwischen wah-
rer und falscher Erkenntnis zu differenzieren, erhebt Descartes die Klarheit und
Deutlichkeit des Erkennens zum maßgeblichen Kriterium. Sein Postulat zur
Vermeidung von Irrtümern lautet: Vertrauen könne der Mensch nur auf das,
was er ,klar und deutlich' (lat. ,clare et distincte') eingesehen habe. Descartes
unterscheidet die Ideen, die auf der Basis von Wahrnehmung oder aufgrund
der Einbildungskraft zustande kommen, von ,eingeborenen Ideen' (,ideae in-
natae'), die apriorisch gegeben, unmittelbar evident sowie ,klar und deutlich'
sind. Später schließt Leibniz an Descartes' Philosophie und sein Konzept der
klaren und deutlichen Erkenntnis an, im 20. Jahrhundert auch Husserl mit sei-
nen Cartesianischen Meditationen.
N.s Einstellung zu Descartes ist durch Ambivalenzen bestimmt: Während
er Descartes' Kritik an traditionellen Konzepten der Seele durchaus goutiert
und Menschliches, Allzumenschliches unter dem Titel „An Stelle einer Vorrede"
sogar mit einer markanten Passage aus Descartes' Discours de la methode eröff-
net (KSA 2, 11), steht er unter dem Einfluss von Schopenhauers monistischer
Willensmetaphysik dem dualistischen Grundkonzept von Descartes distanziert
gegenüber. Obwohl N. dem cartesianischen Rationalismus mit Skepsis begeg-
net, würdigt er Descartes in methodologischer Hinsicht: So leitet er Menschli-
ches, Allzumenschliches mit einem längeren Zitat ein, in dem Descartes den
Anspruch, seine „Vernunft auszubilden und den Spuren der Wahrheit" zu fol-
gen, als selbstgewählten Lebensinhalt exponiert (vgl. KSA 2, 11, 9-10). Im vor-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften