Stellenkommentar UB IV WB 5, KSA 1, S. 456-457 449
haltig prägte. Schopenhauer betrachtet die Musik als „eine im höchsten Grad
allgemeine Sprache, die sich sogar zur Allgemeinheit der Begriffe ungefähr
verhält wie diese zu den einzelnen Dingen" (WWV I, § 52, Hü 309). Zu Scho-
penhauers Musikmetaphysik vgl. auch NK 454, 11-14, NK 479, 12-14 und
NK 479, 18-22. Zum ästhetischen Paradigmenwechsel Wagners unter dem Ein-
fluss seiner Schopenhauer-Lektüre vgl. NK 454, 11-14 sowie Kapitel IV.3 im
Überblickskommentar.
456, 31 - 457, 1 das Schimmern und Aufblitzen zahlloser Steinchen und Stück-
chen, welche man früheren Culturen abgeborgt hat? [...] Ein Kleid in bunten Fet-
zen] Wie Wagner verachtet auch N. die oberflächliche Imitation kultureller
Traditionen. Einschlägige Aussagen hierzu finden sich bereits in der Geburt der
Tragödie, wo N. in diesem Sinne kulturkritisch argumentiert, wenn er erklärt:
„Unsere Kunst offenbart diese allgemeine Noth: umsonst dass man sich an alle
grossen productiven Perioden und Naturen imitatorisch anlehnt, umsonst dass
man die ganze ,Weltlitteratur' zum Tröste des modernen Menschen um ihn ver-
sammelt und ihn mitten unter die Kunststile und Künstler aller Zeiten hinstellt
[...]: er bleibt doch der ewig Hungernde, der ,Kritiker' ohne Lust und Kraft, der
alexandrinische Mensch, der im Grunde Bibliothekar und Corrector ist und an
Bücherstaub und Druckfehlern elend erblindet" (KSA 1, 119, 32 - 120, 8). Vgl.
NK 1/1, 333-334. - Bis ins Spätwerk bringt N. diesen Aspekt der Kulturkritik
immer wieder zur Sprache. So erklärt er im Text 223 von Jenseits von Gut und
Böse: „Der europäische Mischmensch - ein leidlich hässlicher Plebejer, Alles
in Allem - braucht schlechterdings ein Kostüm: er hat die Historie nöthig als
die Vorrathskammer der Kostüme. Freilich bemerkt er dabei, dass ihm keines
recht auf den Leib passt, - er wechselt und wechselt. Man sehe sich das neun-
zehnte Jahrhundert auf diese schnellen Vorlieben und Wechsel der Stil-Maske-
raden an; auch auf die Augenblicke der Verzweiflung darüber, dass uns ,nichts
steht' -. Unnütz, sich romantisch oder klassisch oder christlich oder florenti-
nisch oder barokko oder ,national' vorzuführen, in moribus et artibus: es ,klei-
det nicht'!" (KSA 5, 157, 2-12). Im Sinne dieser kritischen Epochendiagnose
wendet sich N. in seinen polemischen Spätschriften auch gegen das Schauspie-
lerhafte an Richard Wagner (KSA 6, 26, 33 - 32, 9).
457, 12-17 Ueberall, wo man jetzt „Form" verlangt, [...] versteht man darunter
unwillkürlich einen gefälligen Anschein, den Gegensatz des wahren Begriffs von
Form als von einer nothwendigen Gestaltung] Der Begriff der „nothwendigen
Gestaltung", auf den N. wenig später mehrmals wieder zurückkommt (457, 21;
458, 4-5), bedeutet im Gegensatz zum bloß äußerlich und kosmetisch arran-
gierten „gefälligen Anschein" den aus innerer Motivation entstehenden und
insofern „nothwendigen" künstlerischen Ausdruck. Eine derartige Notwendig-
haltig prägte. Schopenhauer betrachtet die Musik als „eine im höchsten Grad
allgemeine Sprache, die sich sogar zur Allgemeinheit der Begriffe ungefähr
verhält wie diese zu den einzelnen Dingen" (WWV I, § 52, Hü 309). Zu Scho-
penhauers Musikmetaphysik vgl. auch NK 454, 11-14, NK 479, 12-14 und
NK 479, 18-22. Zum ästhetischen Paradigmenwechsel Wagners unter dem Ein-
fluss seiner Schopenhauer-Lektüre vgl. NK 454, 11-14 sowie Kapitel IV.3 im
Überblickskommentar.
456, 31 - 457, 1 das Schimmern und Aufblitzen zahlloser Steinchen und Stück-
chen, welche man früheren Culturen abgeborgt hat? [...] Ein Kleid in bunten Fet-
zen] Wie Wagner verachtet auch N. die oberflächliche Imitation kultureller
Traditionen. Einschlägige Aussagen hierzu finden sich bereits in der Geburt der
Tragödie, wo N. in diesem Sinne kulturkritisch argumentiert, wenn er erklärt:
„Unsere Kunst offenbart diese allgemeine Noth: umsonst dass man sich an alle
grossen productiven Perioden und Naturen imitatorisch anlehnt, umsonst dass
man die ganze ,Weltlitteratur' zum Tröste des modernen Menschen um ihn ver-
sammelt und ihn mitten unter die Kunststile und Künstler aller Zeiten hinstellt
[...]: er bleibt doch der ewig Hungernde, der ,Kritiker' ohne Lust und Kraft, der
alexandrinische Mensch, der im Grunde Bibliothekar und Corrector ist und an
Bücherstaub und Druckfehlern elend erblindet" (KSA 1, 119, 32 - 120, 8). Vgl.
NK 1/1, 333-334. - Bis ins Spätwerk bringt N. diesen Aspekt der Kulturkritik
immer wieder zur Sprache. So erklärt er im Text 223 von Jenseits von Gut und
Böse: „Der europäische Mischmensch - ein leidlich hässlicher Plebejer, Alles
in Allem - braucht schlechterdings ein Kostüm: er hat die Historie nöthig als
die Vorrathskammer der Kostüme. Freilich bemerkt er dabei, dass ihm keines
recht auf den Leib passt, - er wechselt und wechselt. Man sehe sich das neun-
zehnte Jahrhundert auf diese schnellen Vorlieben und Wechsel der Stil-Maske-
raden an; auch auf die Augenblicke der Verzweiflung darüber, dass uns ,nichts
steht' -. Unnütz, sich romantisch oder klassisch oder christlich oder florenti-
nisch oder barokko oder ,national' vorzuführen, in moribus et artibus: es ,klei-
det nicht'!" (KSA 5, 157, 2-12). Im Sinne dieser kritischen Epochendiagnose
wendet sich N. in seinen polemischen Spätschriften auch gegen das Schauspie-
lerhafte an Richard Wagner (KSA 6, 26, 33 - 32, 9).
457, 12-17 Ueberall, wo man jetzt „Form" verlangt, [...] versteht man darunter
unwillkürlich einen gefälligen Anschein, den Gegensatz des wahren Begriffs von
Form als von einer nothwendigen Gestaltung] Der Begriff der „nothwendigen
Gestaltung", auf den N. wenig später mehrmals wieder zurückkommt (457, 21;
458, 4-5), bedeutet im Gegensatz zum bloß äußerlich und kosmetisch arran-
gierten „gefälligen Anschein" den aus innerer Motivation entstehenden und
insofern „nothwendigen" künstlerischen Ausdruck. Eine derartige Notwendig-