Stellenkommentar UB IV WB 7, KSA 1, S. 470 485
470, 32 - 471, 4 wenn er alles Dessen gedenkt, was er als Einsamer-Schaffender
entbehrt, als sollte er nun sofort, wie ein zur Erde niedersteigender Gott, alles
Schwache, Menschliche, Verlorene ,mit feurigen Armen zum Himmel emporhe-
ben', um endlich Liebe und nicht mehr Anbetung zu finden und sich, in der Liebe,
seiner selbst völlig zu entäussern!] Hier rekurriert N. auf die letzten Verse aus
Goethes Ballade Der Gott und die Bajadere. Indische Legende: „Es freut sich die
Gottheit der reuigen Sünder; / Unsterbliche heben verlorene Kinder / Mit feuri-
gen Armen zum Himmel empor" (V. 97-99). - Inhaltlich zeigt N. hier Affinitä-
ten zu Richard Wagners Text Eine Mittheilung an meine Freunde (1851). Darin
heißt es: „Ich war mir jetzt meiner vollsten Einsamkeit als künstlerischer
Mensch in einer Weise bewußt geworden, daß ich zunächst einzig aus dem
Gefühle dieser Einsamkeit wiederum die Anregung und das Vermögen zur Mit-
theilung an meine Umgebung schöpfen konnte"; und er fährt fort: „Lohengrin
[...] suchte das Weib, dem er sich nicht zu erklären, nicht zu rechtfertigen habe,
sondern das ihn unbedingt liebe. Er mußte deßhalb seine höhere Natur ver-
bergen, denn gerade eben in der Nichtaufdeckung, in der Nichtoffenbarung
dieses höheren - oder richtiger gesagt: erhöhten - Wesens konnte ihm die
einzige Gewähr liegen, daß er nicht um dieses Wesens willen nur bewundert
und angestaunt, oder ihm - als einem Unverstandenen - anbetungsvoll demü-
thig gehuldigt würde, wo es ihn eben nicht nach Bewunderung und Anbe-
tung, sondern nach dem Einzigen, was ihn aus seiner Einsamkeit erlösen, seine
Sehnsucht stillen konnte, - nach Liebe, nach Geliebtsein, nach Verstan-
densein durch die Liebe, verlangte" (GSD IV, 294-296). Im Vergleich mit
dieser Passage wird deutlich, dass N. den Komponisten Wagner im vorliegen-
den Kontext implizit mit seiner Lohengrin-Figur analogisiert.
Zugleich schließt N. an den Topos von der Einsamkeit des kreativen Genies
an, der bereits im 18. Jahrhundert etabliert war und auch von Schopenhauer
in der Welt als Wille und Vorstellung zum Thema gemacht wird. Nach Schopen-
hauers Überzeugung führt geistige Eminenz notwendigerweise zur Ungesellig-
keit. So erklärt er in den Aphorismen zur Lebensweisheit: „nur wann man allein
ist, ist man frei. Zwang ist der unzertrennliche Gefährte jeder Gesellschaft, und
jede fordert Opfer, die um so schwerer fallen, je bedeutender die eigene Indivi-
dualität ist. Demgemäß wird Jeder in genauer Proportion zum Werthe seines
eigenen Selbst die Einsamkeit fliehen, ertragen, oder lieben. Denn in ihr fühlt
der Jämmerliche seine ganze Jämmerlichkeit, der große Geist seine ganze Grö-
ße, kurz, Jeder sich als was er ist. Ferner, je höher Einer auf der Rangliste der
Natur steht, desto einsamer steht er, und zwar wesentlich und unvermeidlich"
(PP I, Hü 447). Analog: WWV I, § 39, Hü 240. - Da Schopenhauer die Liebe zur
Einsamkeit geradezu als Indikator für den intellektuellen Wert eines Menschen
ansieht, betont er vor allem die Tendenz des Genies zur Einsamkeit. So konsta-
470, 32 - 471, 4 wenn er alles Dessen gedenkt, was er als Einsamer-Schaffender
entbehrt, als sollte er nun sofort, wie ein zur Erde niedersteigender Gott, alles
Schwache, Menschliche, Verlorene ,mit feurigen Armen zum Himmel emporhe-
ben', um endlich Liebe und nicht mehr Anbetung zu finden und sich, in der Liebe,
seiner selbst völlig zu entäussern!] Hier rekurriert N. auf die letzten Verse aus
Goethes Ballade Der Gott und die Bajadere. Indische Legende: „Es freut sich die
Gottheit der reuigen Sünder; / Unsterbliche heben verlorene Kinder / Mit feuri-
gen Armen zum Himmel empor" (V. 97-99). - Inhaltlich zeigt N. hier Affinitä-
ten zu Richard Wagners Text Eine Mittheilung an meine Freunde (1851). Darin
heißt es: „Ich war mir jetzt meiner vollsten Einsamkeit als künstlerischer
Mensch in einer Weise bewußt geworden, daß ich zunächst einzig aus dem
Gefühle dieser Einsamkeit wiederum die Anregung und das Vermögen zur Mit-
theilung an meine Umgebung schöpfen konnte"; und er fährt fort: „Lohengrin
[...] suchte das Weib, dem er sich nicht zu erklären, nicht zu rechtfertigen habe,
sondern das ihn unbedingt liebe. Er mußte deßhalb seine höhere Natur ver-
bergen, denn gerade eben in der Nichtaufdeckung, in der Nichtoffenbarung
dieses höheren - oder richtiger gesagt: erhöhten - Wesens konnte ihm die
einzige Gewähr liegen, daß er nicht um dieses Wesens willen nur bewundert
und angestaunt, oder ihm - als einem Unverstandenen - anbetungsvoll demü-
thig gehuldigt würde, wo es ihn eben nicht nach Bewunderung und Anbe-
tung, sondern nach dem Einzigen, was ihn aus seiner Einsamkeit erlösen, seine
Sehnsucht stillen konnte, - nach Liebe, nach Geliebtsein, nach Verstan-
densein durch die Liebe, verlangte" (GSD IV, 294-296). Im Vergleich mit
dieser Passage wird deutlich, dass N. den Komponisten Wagner im vorliegen-
den Kontext implizit mit seiner Lohengrin-Figur analogisiert.
Zugleich schließt N. an den Topos von der Einsamkeit des kreativen Genies
an, der bereits im 18. Jahrhundert etabliert war und auch von Schopenhauer
in der Welt als Wille und Vorstellung zum Thema gemacht wird. Nach Schopen-
hauers Überzeugung führt geistige Eminenz notwendigerweise zur Ungesellig-
keit. So erklärt er in den Aphorismen zur Lebensweisheit: „nur wann man allein
ist, ist man frei. Zwang ist der unzertrennliche Gefährte jeder Gesellschaft, und
jede fordert Opfer, die um so schwerer fallen, je bedeutender die eigene Indivi-
dualität ist. Demgemäß wird Jeder in genauer Proportion zum Werthe seines
eigenen Selbst die Einsamkeit fliehen, ertragen, oder lieben. Denn in ihr fühlt
der Jämmerliche seine ganze Jämmerlichkeit, der große Geist seine ganze Grö-
ße, kurz, Jeder sich als was er ist. Ferner, je höher Einer auf der Rangliste der
Natur steht, desto einsamer steht er, und zwar wesentlich und unvermeidlich"
(PP I, Hü 447). Analog: WWV I, § 39, Hü 240. - Da Schopenhauer die Liebe zur
Einsamkeit geradezu als Indikator für den intellektuellen Wert eines Menschen
ansieht, betont er vor allem die Tendenz des Genies zur Einsamkeit. So konsta-