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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0514
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Stellenkommentar UB IV WB 7, KSA 1, S. 471 487

Wagners, den er als „dithyrambische[n] Dramatiker" bezeichnet (472, 9-13).
Zugleich greift er auf wesentliche Aspekte aus der Ästhetik des Musikdramas
zurück, die Wagner in seiner Schrift Das Bühnenfestspielhaus zu Bayreuth in
direkter Ansprache an die Zuschauer folgendermaßen erläutert: „so wird nun
der geheimnißvolle Eintritt der Musik Sie auf die Enthüllung und deutliche
Vorführung von scenischen Bildern vorbereiten, welche, wie sie aus einer idea-
len Traumwelt vor Ihnen sich darzustellen scheinen, die ganze Wirklichkeit
der sinnvollsten Täuschung einer edlen Kunst vor Ihnen kundgeben sollen.
Hier darf nichts mehr in bloßen Andeutungen eben nur provisorisch zu Ihnen
sprechen; so weit das künstlerische Vermögen der Gegenwart reicht, soll Ihnen
im scenischen, wie im mimischen Spiele das Vollendetste geboten werden";
dabei intendiert Wagner „die möglichst vollendete Ausführung seines auf eine
erhabene Täuschung abzielenden Theiles" (GSD IX, 327).
Indem N. im vorliegenden Kontext die „Abfolge eines ganzen heroisch-
übermüthigen Wollens, eines wonnereichen Untergehens und Nicht-mehr-
Wollens" zum Thema macht, nimmt er auf zentrale Aspekte von Schopenhau-
ers Willensmetaphysik Bezug: In der Welt als Wille und Vorstellung beschreibt
Schopenhauer das aus dem Willen als dem Urgrund alles Seienden hervorge-
hende Wollen der Individuen als einen leidensträchtigen Drang, der nur durch
die Verneinung des Willens zum Leben oder durch die Aufhebung des principi-
um individuationis suspendiert werden kann. Das ,Untergehen' der tragischen
Helden erscheint nach Schopenhauer und N. als ,wonnereich', weil hier der
Schmerz des Individuums in der tragischen Katastrophe überwunden und ein
Übergang in das vor- und überindividuelle Ganze vollzogen wird. Vgl. NK 452,
10-15. Zu den Analogien und Differenzen zwischen Schopenhauer und N. vgl.
Neymeyr 1996a, 215-263 sowie 2011, 369-391 und 2018, 293-304.
Auch mit der Vorstellung einer „Weisheit [...] des tragischen Gedankens"
orientiert sich N. an Schopenhauers Interpretation des Tragischen. N. konzi-
piert den Gesamtvorgang hier gemäß den Kategorien Schopenhauers und
schließt zugleich an seine eigene Metaphorisierung des tragischen Geschehens
an, das er in der Tragödienschrift auf Wagners Musikdramen hin perspektiviert
hat: Die „Traumerscheinung", von der anfangs die Rede ist, entspricht tenden-
ziell dem ,Apollinischen', das N. in der Geburt der Tragödie mit dem principium
individuationis gemäß der Philosophie Schopenhauers korreliert. Die Vorstel-
lung des „Untergehens" hingegen verbindet er in Anlehnung an das Konzept
der Verneinung des Willens zum Leben', das Schopenhauers Ethik bestimmt,
mit der Imagination einer Rückkehr in den Urgrund des ,Dionysischen', der
sich laut N. in der Musik offenbart. Der Geburt der Tragödie zufolge stellt dieser
Urgrund des ,Dionysischen' zugleich die existentielle Basis für die apollini-
schen Traumerscheinungen dar, die sich in den Bildern und Gestalten des dra-
 
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