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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0525
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498 Richard Wagner in Bayreuth

haft zu überwinden. Andererseits jedoch entwirft er nur wenig später im
7. Kapitel der Historienschrift ein spätromantisches Ideal des Volkes, indem er
das Plädoyer formuliert: „Schafft euch den Begriff eines ,Volkes': den könnt ihr
nie edel und hoch genug denken" (KSA 1, 302, 12-13). - Mit diesem von Wag-
ners Volksideologie beeinflussten Appell begibt sich N. in eine Opposition zu
seiner durch Schopenhauer angeregten Vorliebe für heroische Ausnahmeexis-
tenzen.
Je stärker sich allerdings N.s Vorbehalte gegenüber dem beginnenden in-
dustriellen Massenzeitalter ausprägen, desto größer wird seine Affinität zu
einem individualistischen Geistesaristokratismus (vgl. auch die Belege in
NK 402, 15-17). Zugleich intensiviert sich seine Distanz zur romantischen
Volksideologie Wagners. Insofern erscheint N.s Kult des großen Individuums
und des heroischen Menschen, der sich mit einem Gestus der Verachtung ge-
genüber jeder Art von Mediokrität verbindet, auch als eine antimoderne Gegen-
strategie. - Obwohl das ,Volk' für N. im vorliegenden Kontext von UB IV WB
sogar „der wahre und einzige Künstler" ist, verwendet er in UB III SE Schopen-
hauers Metapher „Fabrikwaare" (KSA 1, 338, 7), um die lethargische Masse zu
bezeichnen, die er in UB II HL als „gemein und ekelhaft uniform" diffamiert
(KSA 1, 320, 10-11). (Zur Sklaven- und Fabrik-Metaphorik bei Schopenhauer
und N. vgl. NK 300, 25-29.) Mit Nachdruck polemisiert N. in seiner Historien-
schrift gegen eine Geschichtsschreibung „vom Standpunkte der Massen"
(KSA 1, 318, 34), die seines Erachtens „nur in dreierlei Hinsicht einen Blick"
verdienen: erstens als schwache „Copien der grossen Männer, auf schlechtem
Papier und mit abgenutzten Platten hergestellt", zweitens „als Widerstand ge-
gen die Grossen" und drittens „als Werkzeuge der Grossen; im Uebrigen hole
sie der Teufel und die Statistik!" (KSA 1, 320, 3-9).
475, 32-34 um daraus ein wollüstiges Mittel gegen die Erschöpfung und die
Langeweile ihres Daseins zu destilliren - die modernen Künste] Im Text 169 von
Menschliches, Allzumenschliches II traktiert N. ein „Kunstbedürfniss
zweiten Ranges". Zunächst bezeichnet er das „Kunstbedürfniss" des Vol-
kes als so schlicht, dass es bereits durch den „Abfall der Kunst" befriedigt
werden kann (KSA 2, 446, 13-16), und erklärt: „Nur bei Ausnahme-Men-
schen giebt es jetzt ein Kunstbedürfniss in hohem Stile" (KSA 2, 446, 27-
28). Anschließend stellt N. „noch ein breiteres, umfänglicheres Kunstbedürf-
niss, aber zweiten Ranges, in den höheren und höchsten Schichten der
Gesellschaft" fest (KSA 2, 447, 2-4) und diagnostiziert seine kompensatorische
Funktion im Hinblick auf unterschiedlichste Defizite im Leben: „Und was be-
gehren sie eigentlich von der Kunst? Sie soll ihnen für Stunden und Augenbli-
cke das Unbehagen, die Langeweile, das halbschlechte Gewissen verscheu-
chen und womöglich den Fehler ihres Lebens und Charakters als Fehler des
 
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