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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0536
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Stellenkommentar UB IV WB 8, KSA 1, S. 479-480 509

gen fand im Zusammenhang mit der Eröffnung des Bayreuther Festspielhauses
vom 13. bis 17. August 1876 statt.
480, 2-9 Wer sich über die Nachbarschaft des Tristan und der Meistersinger
befremdet fühlen kann, hat das Leben und Wesen aller wahrhaft grossen Deut-
schen in einem wichtigen Puncte nicht verstanden: er weiss nicht, auf welchem
Grunde allein jene eigentlich und einzig deutsche Heiterkeit Luther's, Beet-
hoven's und Wagner's erwachsen kann, die von anderen Völkern gar nicht ver-
standen wird und den jetzigen Deutschen selber abhanden gekommen scheint]
Direkt anschließend charakterisiert N. diese Heiterkeit als eine „Mischung von
Einfalt, Tiefblick der Liebe, betrachtendem Sinne und Schalkhaftigkeit, wie sie
Wagner als den köstlichsten Trank allen Denen eingeschenkt hat, welche tief
am Leben gelitten haben" (480, 10-13). Insofern bringt N. die Heiterkeit hier
mit einer melancholischen Grundierung in Verbindung. Konsequent erscheint
dies auch angesichts seiner Auffassung, Wagner sei „die leibhaftigste Illustrati-
on dessen, was Schopenhauer ein Genie nennt" (KSB 2, Nr. 604, S. 352). Denn
in der Welt als Wille und Vorstellung II charakterisiert Schopenhauer das Genie
in ähnlichem Sinne durch einen „Anstrich großer, gleichsam überirdischer
Heiterkeit, welcher zu Zeiten durchbricht und sehr wohl mit der Melancholie
der übrigen Gesichtszüge [...] zusammenbesteht" (WWV II, Kap. 31, Hü 435). -
Zum Handlungsverlauf von Wagners Opern Tristan und Isolde sowie Die Meis-
tersinger von Nürnberg vgl. NK 438, 3-4 und 438, 4.
N. selbst hatte sich schon in der Geburt der Tragödie und darüber hinaus
auch in zahlreichen nachgelassenen Notaten im Umfeld dieses Werkes mit der
Thematik der Heiterkeit auseinandergesetzt, über die er sogar eine eigene Ab-
handlung plante. Vgl. dazu N.s nachgelassene Skizze (NL 1870-1871, 5 [120],
KSA 7, 126): „Die Tragödie und die griechische Heiterkeit." - N.
lehnte das von Winckelmann ausgehende undialektische Verständnis der grie-
chischen „Heiterkeit" ab und entwarf als Gegenmodell ein dialektisches Kon-
zept (vgl. NK 447, 9-10), mit dem er sich an Schopenhauers Kategorien orien-
tierte: Allein auf dem dunklen Urgrund einer vom Leiden bestimmten
Willenssphäre habe sich die Welt des schönen Scheins erheben können, die
N. mit Schopenhauers Konzept der Vorstellung korreliert. In der vorliegenden
Textpartie versucht N. vor diesem Hintergrund eine spezifisch „deutsche
Heiterkeit" und eine ihr entsprechende kulturelle Tradition zu behaupten,
die bis zu Wagner reicht. Dass N. hier auch Luther und Beethoven in diesen
Traditionszusammenhang einordnet, hängt mit dem von Wagner oftmals be-
tonten Protestantismus und mit seiner Vorliebe für Beethoven zusammen, der
er in seiner Festschrift Beethoven zum 100. Geburtstag des Komponisten im
Jahre 1870 programmatischen Ausdruck verliehen hatte.
 
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