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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0544
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Stellenkommentar UB IV WB 8, KSA 1, S. 483-484 517

sinnvollsten Täuschung einer edlen Kunst vor Ihnen kundgeben sollen [...]"
(GSD IX, 326-327). Vgl. dazu auch NK 471, 32 - 472, 8.
484, 2-8 zum Heile einer fernen, einer nur möglichen, aber unbeweisbaren Zu-
kunft ausgedacht, für die Gegenwart und die nur gegenwärtigen Menschen nicht
viel mehr, als ein Räthsel oder ein Greuel, für die Wenigen, die an ihm helfen
durften, ein Vorgenuss, ein Vorausleben der höchsten Art, durch welches sie weit
über ihre Spanne Zeit sich beseligt, beseligend und fruchtbar wissen] Wagner
selbst betonte immer wieder, dass seine Kunst ihre eigentlichen Wirkungen
erst in der Zukunft entfalten werde, weil sie nur einem künftigen Menschenty-
pus verständlich sein könne, der das defizitäre Kunstverständnis der Gegen-
wart bereits überwunden habe. In diesem Sinne soll die Kunst nach Wagners
Überzeugung auf eine Zeit vorausweisen, in der sich die zeitgenössischen Nor-
men und Werte schon zum Positiven verändert haben. - N. bringt an dieser
Stelle das Zukunftsmotiv zur Geltung, das er in UB IV WB immer wieder deut-
lich hervortreten lässt, bis es in der Schlusspassage dann sogar dominant wird.
484, 20 das eigene heldenhafte Dasein des grossen Menschen] In einer ring-
kompositorischen Konzeption nimmt N. hier, am Ende seines biographisch ori-
entierten Überblicks, das im 1. Kapitel von UB IV WB bereits exponierte Thema
der „Grösse" (431, 2) und des „grossen Menschen" (431, 20) wieder auf. Zu den
Charakteristika von Wagners Ausnahmeexistenz gehören nach N.s Auffassung
Irrtümer über die eigentliche Bestimmung, „der Zwang einer tragischen Täu-
schung über das Lebensziel" (484, 15-16), die permanente Selbsttranszendie-
rung durch die Suche nach neuen Formen von Produktivität, „das Umbiegen
und Brechen der Absichten" (484, 16-17), eine durch Leiden bestimmte Exis-
tenz, „das Verzichten" (484, 17) und schließlich das Erreichen des ersehnten
Ziels durch Aufopferung sowie ein „Gereinigt-werden durch Liebe" (484, 17-
18). Diese Aussagen N.s über Wagner sind durch Schopenhauers Konzept der
Resignation und Entsagung auf der Basis einer Verneinung des Willens zum
Leben geprägt (vgl. dazu NK 478, 24-28). Wagners besondere Leistung besteht
für N. darin, dass er den Menschen der Gegenwart durch sein Werk eine mythi-
sche Präsenz vergangener heroischer Epochen bietet und ihnen zugleich die
Möglichkeit verschafft, ein alle Sinne ansprechendes, zukunftsweisendes
Kunstwerk zu erleben.
484, 21-24 Ganz von ferne her wird uns zu Muthe sein, als ob Siegfried von
seinen Thaten erzählte: im rührendsten Glück des Gedenkens webt die tiefe Trau-
er des Spätsommers, und alle Natur liegt still in gelbem Abendlichte. -] Hier
spielt N. auf den 3. Aufzug in Wagners Götterdämmerung an (GSD VI, 233 ff.),
dem Musikdrama, das den vierten Teil von Wagners Tetralogie Der Ring des
Nibelungen bildet.
 
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