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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0545
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518 Richard Wagner in Bayreuth

9.
484, 26-31 Darüber nachzudenken, was Wagner, der Künstler, ist und
an dem Schauspiele eines wahrhaft frei gewordenen Könnens und Dürfens be-
trachtend vorüberzugehen: Das wird Jeder zu seiner Heilung und Erholung nöthig
haben, der darüber, wie Wagner, der Mensch, wurde, gedacht und gelit-
ten hat.] Dieser abrupte Themenwechsel N.s entspricht der Überzeugung, die
Schopenhauer in der Welt als Wille und Vorstellung I vertritt: dass „in einem
Komponisten, mehr als in irgend einem andern Künstler, der Mensch vom
Künstler ganz getrennt und unterschieden" ist, weil der Musiker „das innerste
Wesen der Welt" in einer begriffslosen Sprache ausspricht, „die seine Vernunft
nicht versteht" (WWV I, § 52, Hü 307). - Mit dem Themenwechsel vom Men-
schen zum Künstler Wagner korrespondiert zugleich eine markante Zäsur in
der Entstehungsgeschichte von UB IV WB: Nach einer etwa halbjährigen Pause
im Produktionsprozess (Herbst 1875 bis Frühjahr 1876) schrieb N. die drei noch
fehlenden Kapitel 9 bis 11 von UB IV WB im Zeitraum zwischen Mai und Juni
1876 eilig nieder, um den Text noch rechtzeitig als Festschrift zur bevorstehen-
den Eröffnung des Bayreuther Festspielhauses publizieren zu können. (Vgl.
dazu im Überblickskommentar das Kapitel IV.1 zur Entstehungs- und Textge-
schichte.)
Nachdem sich N. in den ersten acht Kapiteln, die bereits im Herbst 1875
vorlagen, hauptsächlich auf die Biographie Richard Wagners, seine Charakter-
züge, Zielsetzungen und Schwierigkeiten sowie auf seine Stellung in der Epo-
che konzentriert hat, wendet er sich in den letzten drei Kapiteln primär dem
Künstler Wagner und der ,Zukunft' seines Werkes in Bayreuth zu. Diesen The-
menwechsel markiert der erste Satz des 9. Kapitels. - Wie in den ersten acht
Kapiteln von UB IV WB orientiert sich N. auch im Folgenden sehr weitgehend
an den theoretischen Schriften, in denen Wagner seine ästhetischen Prämissen
und seine künstlerischen Intentionen exponiert. Erneut bezieht N. dabei auch
kulturkritische Aspekte in die Darstellung mit ein. Zugleich nimmt er die Vor-
stellungen wieder auf, die er schon in seiner Erstlingsschrift am Beispiel der
griechischen Tragödie und im Hinblick auf die von ihm erhoffte Wiedergeburt'
der Tragödie in Wagners Musikdramen formuliert hatte.
Um in seiner Schrift den Übergang von den biographischen Dimensionen
zu Wagners Schaffen als Musiker zu vollziehen und dabei den auch entste-
hungsgeschichtlich bedingten Hiat zu überbrücken, deutet N. die Konstellation
von „Mensch" und „Künstler" nach dem Grundschema, das Schopenhau-
ers Welt als Wille und Vorstellung bestimmt: Der „Mensch" Wagner mit sei-
nem von zahlreichen Problemen und Turbulenzen geprägten Leben wird impli-
zit mit Schopenhauers Konzept des ,Willens' als eines existentiellen Urgrunds
 
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