522 Richard Wagner in Bayreuth
aller Erscheinung das Ding an sich darstellt" (WWV I, § 52, Hü 310). Wenn „es
gelänge eine vollkommen richtige, vollständige [...] Erklärung der Musik", also
ihres eigentlichen Inhalts, „in Begriffen zu geben", dann wäre diese zugleich
die „Erklärung der Welt in Begriffen", mithin „die wahre Philosophie" (WWV I,
§ 52, Hü 312). Insofern hält Schopenhauer die Musik trotz ihrer sinnlichen Di-
mension auch für eine unbewusste Übung in der Metaphysik, bei der der Geist
nicht weiß, dass er philosophiert: „Musica est exercitium metaphysices occul-
tum nescientis se philosophari animi" (WWV I, § 52, Hü 313). Zu Schopenhau-
ers Musikästhetik vgl. auch NK 457, 31 - 458, 2 und NK 479, 12-14.
Bereits in der Geburt der Tragödie geht N. ausführlich auf „den Typus des
theoretischen Menschen" ein (KSA 1, 98, 9-10), den er als den Repräsen-
tanten wissenschaftlicher Rationalität und als Zerstörer der natürlichen Jn-
stinkte' beschreibt. N. hält Sokrates für „das Urbild des theoretischen Optimis-
ten", der im „Glauben an die Ergründlichkeit der Natur der Dinge dem Wissen
und der Erkenntniss die Kraft einer Universalmedizin beilegt" (KSA 1, 100, 25-
28) und damit zum Gegner „der tragischen Weltbetrachtung" wird (KSA 1, 103,
10). N.s eigene Präferenzen gehen aus seiner Perspektive auf den „ewigen
Kampf zwischen der theoretischen und der tragischen Weltbe-
trachtung" hervor: „erst nachdem der Geist der Wissenschaft bis an seine
Grenze geführt ist, und sein Anspruch auf universale Gültigkeit durch den
Nachweis jener Grenzen vernichtet ist, dürfte auf eine Wiedergeburt der Tragö-
die zu hoffen sein" (KSA 1, 111, 12-17). Dabei richtet sich N.s Erwartung konkret
auf Richard Wagner. Im „Versuch einer Selbstkritik", den er später der Neuaus-
gabe der Tragödienschrift (1886) voranstellte, bringt er die Mentalität „des
theoretischen Menschen" mit einer symptomatischen Decadence-Disposition
in Verbindung: mit „Zeichen des Niedergangs, der Ermüdung, Erkrankung, der
anarchisch sich lösenden Instinkte" (KSA 1, 12, 25-27). Vgl. auch NK 486, 2-4
und NK 486, 8.
486, 2-4 die Schlüsse, welche man macht, sind die Verknüpfungen der Vorgän-
ge, die man sieht, also thatsächliche Causalitäten, keine logischen] Im Anschluss
an Wagner äußert N. Vorbehalte gegen das Denken in logischen „Causalitäten"
und plädiert stattdessen für ein intuitiv-künstlerisches Erfassen von Zusam-
menhängen. Wagner erklärt in seiner Schrift „Zukunftsmusik", die Musik Beetho-
vens sei „mächtiger als alle Logik", indem sie Zusammenhänge eröffne, durch
welche „die logisirende Vernunft" völlig „verwirrt und entwaffnet" werde (GSD
VII, 110). Zugleich ist N. auch durch Grundkonzepte von Schopenhauers Ästhe-
tik geprägt. In der Geburt der Tragödie charakterisiert N. „eine tiefsinnige
Wahnvorstellung, welche zuerst in der Person des Sokrates zur Welt
kam": Es ist „jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfa-
den der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das
aller Erscheinung das Ding an sich darstellt" (WWV I, § 52, Hü 310). Wenn „es
gelänge eine vollkommen richtige, vollständige [...] Erklärung der Musik", also
ihres eigentlichen Inhalts, „in Begriffen zu geben", dann wäre diese zugleich
die „Erklärung der Welt in Begriffen", mithin „die wahre Philosophie" (WWV I,
§ 52, Hü 312). Insofern hält Schopenhauer die Musik trotz ihrer sinnlichen Di-
mension auch für eine unbewusste Übung in der Metaphysik, bei der der Geist
nicht weiß, dass er philosophiert: „Musica est exercitium metaphysices occul-
tum nescientis se philosophari animi" (WWV I, § 52, Hü 313). Zu Schopenhau-
ers Musikästhetik vgl. auch NK 457, 31 - 458, 2 und NK 479, 12-14.
Bereits in der Geburt der Tragödie geht N. ausführlich auf „den Typus des
theoretischen Menschen" ein (KSA 1, 98, 9-10), den er als den Repräsen-
tanten wissenschaftlicher Rationalität und als Zerstörer der natürlichen Jn-
stinkte' beschreibt. N. hält Sokrates für „das Urbild des theoretischen Optimis-
ten", der im „Glauben an die Ergründlichkeit der Natur der Dinge dem Wissen
und der Erkenntniss die Kraft einer Universalmedizin beilegt" (KSA 1, 100, 25-
28) und damit zum Gegner „der tragischen Weltbetrachtung" wird (KSA 1, 103,
10). N.s eigene Präferenzen gehen aus seiner Perspektive auf den „ewigen
Kampf zwischen der theoretischen und der tragischen Weltbe-
trachtung" hervor: „erst nachdem der Geist der Wissenschaft bis an seine
Grenze geführt ist, und sein Anspruch auf universale Gültigkeit durch den
Nachweis jener Grenzen vernichtet ist, dürfte auf eine Wiedergeburt der Tragö-
die zu hoffen sein" (KSA 1, 111, 12-17). Dabei richtet sich N.s Erwartung konkret
auf Richard Wagner. Im „Versuch einer Selbstkritik", den er später der Neuaus-
gabe der Tragödienschrift (1886) voranstellte, bringt er die Mentalität „des
theoretischen Menschen" mit einer symptomatischen Decadence-Disposition
in Verbindung: mit „Zeichen des Niedergangs, der Ermüdung, Erkrankung, der
anarchisch sich lösenden Instinkte" (KSA 1, 12, 25-27). Vgl. auch NK 486, 2-4
und NK 486, 8.
486, 2-4 die Schlüsse, welche man macht, sind die Verknüpfungen der Vorgän-
ge, die man sieht, also thatsächliche Causalitäten, keine logischen] Im Anschluss
an Wagner äußert N. Vorbehalte gegen das Denken in logischen „Causalitäten"
und plädiert stattdessen für ein intuitiv-künstlerisches Erfassen von Zusam-
menhängen. Wagner erklärt in seiner Schrift „Zukunftsmusik", die Musik Beetho-
vens sei „mächtiger als alle Logik", indem sie Zusammenhänge eröffne, durch
welche „die logisirende Vernunft" völlig „verwirrt und entwaffnet" werde (GSD
VII, 110). Zugleich ist N. auch durch Grundkonzepte von Schopenhauers Ästhe-
tik geprägt. In der Geburt der Tragödie charakterisiert N. „eine tiefsinnige
Wahnvorstellung, welche zuerst in der Person des Sokrates zur Welt
kam": Es ist „jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfa-
den der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das