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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0567
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540 Richard Wagner in Bayreuth

keit. In diesem Sinne unterscheidet er im Kapitel 23 „Ueber Schriftstellerei und
Stil" seiner Parerga und Paralipomena II „zweierlei Schriftsteller: solche, die
der Sache wegen, und solche, die des Schreibens wegen schreiben. Jene haben
Gedanken gehabt, oder Erfahrungen gemacht, die ihnen mittheilenswerth
scheinen; Diese brauchen Geld [...]. Sie denken zum Behuf des Schreibens. Man
erkennt sie daran, daß sie ihre Gedanken möglichst lang ausspinnen und auch
halbwahre, schiefe, forcirte und schwankende Gedanken ausführen, auch
meistens das Helldunkel lieben, um zu scheinen was sie nicht sind; weshalb
ihrem Schreiben Bestimmtheit und volle Deutlichkeit abgeht" (PP II, Kap. 23,
§ 272, Hü 532). Laut Schopenhauer gilt dies in vergleichbarer Weise für literari-
sche und philosophische Autoren.
493, 16 dem tönenden Processe des Gefühls und der Leidenschaft] Das Wort
,Process' verwendet N. hier im ursprünglichen Wortsinn - gemäß der Bedeu-
tung des lateinischen Verbs ,procedere': voranschreiten.
493, 18-20 so ist uns, als ob er im Bereiche der Musik das Gleiche gethan habe,
was im Bereiche der Plastik der Erfinder der Freigruppe that] Seit ca. 620 v. Chr.
entstanden in der griechischen Kunst Tempelbilder, die sich frei umgehbar
oder nur leicht an die Wand angelehnt auf einem oftmals dekorierten Podest
erhoben. Diese freie und isolierte Position der Plastiken, die weder durch eine
Nische mit der Architektur des Tempels in Verbindung standen, noch als Relief
aus derselben hervortraten, hatte eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung
der griechischen Kunst. Während die archaischen Plastiken noch durch ein
strenges Achsensystem bestimmt waren, führte die Differenzierung zwischen
Stand- und Spielbein bei den Figuren in der klassischen Plastik zur Gewichts-
verlagerung auf ein einzelnes Bein, die eine natürlichere Standposition zur
Folge hatte. Erst die hellenistischen Plastiken gewannen dann seit dem 4. Jh.
v. Chr. die volle Freiheit im Ausdruck. Auch ihr Arrangement in Gruppen trug
zum Eindruck besonderer Natürlichkeit bei.
494, 2-5 Wagner's Musik als Ganzes ist ein Abbild der Welt, sowie diese von
dem grossen ephesischen Philosophen verstanden wurde, als eine Harmonie, wel-
che der Streit aus sich zeugt] An dieser Stelle greift N. sowohl auf die Philoso-
phie Heraklits als auch auf Schopenhauers Musikmetaphysik zurück. Dass der
in Ephesos geborene Heraklit (ca. 520-460 v. Chr.) für N. als zentrale Leitfigur
fungierte, erhellt vor allem aus seiner Schrift Die Philosophie im tragischen Zeit-
alter der Griechen. Für Heraklit ist die Lehre von der Einheit der Gegensätze
charakteristisch: Seiner pantheistischen Weltsicht zufolge sind in der Allnatur
alle Gegensätze aufgehoben; vgl. dazu die Heraklit-Fragmente 8, 10, 80 (Diels/
Kranz). N. überträgt diese kontrastive Grundstruktur auf die Musik Wagners,
indem er davon ausgeht, dass auch hier aus dem „Streit" (der Gegensätze) die
 
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