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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0569
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542 Richard Wagner in Bayreuth

495, 20 Demosthenes] In der Antike war Demosthenes (384-322 v. Chr.) als po-
litischer Redner berühmt. Mit seinen Reden, die ihn zum großen Vorbild für
spätere Generationen von Rednern werden ließen, kämpfte er engagiert gegen
die Bedrohung der griechischen Freiheit durch König Philipp von Makedonien,
den Vater Alexanders des Großen. Demosthenes' Kampfreden gegen König
Philipp wurden unter dem Begriff ,Philippika' bekannt. Im Corpus der insge-
samt 61 Reden des Demosthenes befinden sich 17 Staatsreden und über 40 Ge-
richtsreden für politische und private Prozesse. Bereits seit der Antike galt
Demosthenes als Freiheitskämpfer. Aus antiken Quellen ist überliefert, dass
auf der Agora in Athen eine Statue des Demosthenes aufgestellt wurde, auf
der sich die folgende Inschrift befand: „Wenn Deine Kraft gleich Deiner
Entschlossenheit gewesen wäre, hätte der makedonische Ares niemals die
Griechen beherrscht." - N. analogisiert im vorliegenden Kontext den Kompo-
nisten Wagner mit dem antiken Rhetor Demosthenes, und zwar im Hinblick
auf „den furchtbaren Ernst um die Sache" (495, 21).
495, 30-32 Er trägt nichts Epideiktisches an sich, was alle früheren Musiker
haben, welche gelegentlich mit ihrer Kunst auch ein Spiel treiben und ihre Meis-
terschaft zur Schau stellen.] Der Begriff ,epideiktisch' ist vom griechischen Wort
eniöeiQg abgeleitet. Unter ,Epideiktik' versteht man eine rhetorisch reich aus-
geschmückte Fest- oder Preisrede sowie den bei derartigen Gelegenheiten übli-
chen Redestil. Mithin bedeutet ,epideiktisch': prahlerisch, prunkend. Und mit
„nichts Epideiktisches" ist gemeint: nichts Demonstratives oder Inszeniertes
in diesem Sinne. - N. verwendet den Begriff hier, um von einer Tendenz der
„früheren Musiker" zur Selbstinszenierung die andersgeartete „Natur" der
Wagnerischen Kompositionen (495, 29) und das in ihnen spürbare „Noth-
wendige" abzugrenzen (496, 1). - Dennoch attestiert er Richard Wagner in
UB IV WB zuvor bereits „eine schauspielerische Urbegabung" (467, 32). Und
später erklärt N. im Text 368 der Fröhlichen Wissenschaft: „ich bin wesentlich
antitheatralisch geartet, - aber Wagner war umgekehrt wesentlich Theater-
mensch und Schauspieler, der begeistertste Mimomane, den es gegeben hat,
auch noch als Musiker!" (KSA 3, 617, 19-22), und zwar nach dem Prinzip: ,„die
Attitüde ist der Zweck, das Drama, auch die Musik ist immer nur ihr Mittel'.
Die Musik als Mittel zur Verdeutlichung, Verstärkung, Verinnerlichung der dra-
matischen Gebärde und Schauspieler-Sinnenfälligkeit; und das Wagnerische
Drama nur eine Gelegenheit zu vielen dramatischen Attitüden!" (KSA 3, 617,
25-30). Zum grundlegenden ästhetischen Paradigmenwechsel des Komponis-
ten vgl. NK 454, 11-14, zu seiner Strategie, maximale Wirkung durch spezifi-
sche musikalische Effekte zu erzielen, vgl. NK 474, 3-11.
Gegen Wagners schauspielerhaften Habitus polemisiert N. mit Nachdruck
in seinen späten Anti-Wagner-Schriften, etwa wenn er den „Schauspieler
 
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