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Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0578
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Stellenkommentar UB IV WB 10, KSA 1, S. 499-501 551

499, 26-28 die verschiedenen europäischen Länder, denen er zeitweilig als der
Richter und das böse Gewissen ihrer Künste angehörte] Vgl. dazu konkret
NK 499, 24.
500, 12-14 Er nimmt in seiner Vorstellung das Gebäude unserer Civilisation aus
einander und lässt sich nichts Morsches, nichts Leichtfertig-Gezimmertes entge-
hen] Vgl. dazu eine Parallelstelle in der Geburt der Tragödie: Hier beschreibt N.
in einem analogen Szenario „jene eben so düster geschilderte Wildniss unserer
ermüdeten Cultur, wenn sie der dionysische Zauber berührt! Ein Sturmwind
packt alles Abgelebte, Morsche, Zerbrochne, Verkümmerte, hüllt es wirbelnd
in eine rothe Staubwolke und trägt es wie ein Geier in die Lüfte" (KSA 1, 131,
33 - 132, 3).
500, 21-22 er lebt wie Sieglinde „um der Liebe willen."] N. analogisiert die Situ-
ation Wagners hier mit der Lage Sieglindes in seiner Oper Die Walküre: Dem
künstlerischen Werk, in dem Wagner fortleben kann, entspricht in diesem Sin-
ne die über die individuelle Existenz hinausweisende Schwangerschaft Sieglin-
des, die durch den Inzest mit Siegmund entstanden ist. Aus ihr geht der Held
Siegfried hervor. Im 3. Akt von Richard Wagners Walküre offenbart Brünnhilde
der verzweifelten Sieglinde, dass sie ein Kind erwartet, und appelliert an die
Schwangere: „Lebe, o Weib, / um der Liebe willen! / Rette das Pfand, / das
von ihm du empfingst: / [...] ein Wälsung wächst dir im Schoß!" (GSD VI, 67).
501, 8-10 Wagner als Schriftsteller zeigt den Zwang eines tapferen Men-
schen, dem man die rechte Hand zerschlagen hat und der mit der linken ficht]
Mit der zerschlagenen rechten Hand sind hier die zunächst erfolglosen An-
strengungen des Musikers Wagner gemeint, während die linke Hand seine Be-
mühungen repräsentiert, mithilfe von theoretischen Schriften Verständnis für
seine Kunst zu gewinnen. In diesem Kontext sind die programmatischen Texte
Wagners als Notbehelf zu verstehen, als bloßes Surrogat für den Erfolg im mu-
sikalischen Terrain, der ihm noch fehlt. Wagners Wirkungsstrategie macht N.
wenig später evident: „hat er es erst erreicht, seinen Instinct in Erkenntniss
umzuwandeln, so hofft er, dass in den Seelen seiner Leser der umgekehrte
Process sich einstellen werde: mit dieser Aussicht schreibt er" (501, 17-20).
501, 33 - 502, 3 Gewisse Schriften, wie „Beethoven", „über das Dirigiren", „über
Schauspieler und Sänger", „[Über] Staat und Religion", machen jedes Gelüst zum
Widersprechen verstummen und erzwingen sich ein stilles innerliches, andächti-
ges Zuschauen, wie es sich beim Aufthun kostbarer Schreine geziemt] Im Hin-
blick auf Wagners theoretische Schriften zeigt N. hier eine auffallende Bereit-
schaft zu unkritischer Affirmation, die dem Gestus religiöser Verehrung eher
entspricht als der sachlichen Rezeptionshaltung eines Philologen. Bezeichnen-
 
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