558 Richard Wagner in Bayreuth
tober 1828: „Goethe sagte mir, daß er Carlyles Aufsatz über ihn gleichfalls die-
sen Morgen betrachtet, und so waren wir denn imstande, über die Bestrebun-
gen der Ausländer manche Worte des Lobes gegenseitig auszutauschen. ,Es ist
eine Freude, zu sehen, sagte Goethe, wie die frühere Pedanterie der Schotten
sich in Ernst und Gründlichkeit verwandelt hat. Wenn ich bedenke, wie die
Edinburger vor noch nicht langen Jahren meine Sachen behandelt haben, und
ich jetzt dagegen Carlyle's Verdienste um die deutsche Literatur erwäge, so ist
es auffallend, welch ein bedeutender Vorschritt zum Bessern geschehen ist.'
[...] ,Freilich, sagte ich, hat Carlyle den Meister [sc. Wilhelm Meisters Lehrjahre]
studiert, und so, durchdrungen von dem Wert des Buches wie er ist, möchte
er gerne, daß es sich allgemein verbreitete, er möchte gerne, daß jeder Gebilde-
te davon gleichen Gewinn und Genuß hätte.' Goethe zog mich an ein Fenster,
um mir zu antworten. ,Liebes Kind,' sagte er, ,ich will Ihnen etwas vertrauen,
das Sie sogleich über vieles hinaushelfen und das Ihnen lebenslänglich zugute
kommen soll. Meine Sachen können nicht populär werden; wer daran denkt und
dafür strebt, ist in einem Irrtum. Sie sind nicht für die Masse geschrieben, son-
dern nur für einzelne Menschen, die etwas Ähnliches wollen und suchen, und
die in ähnlichen Richtungen begriffen sind.'"
503, 28-29 die Niedrigen und Armen im Geiste mit ihrem Strahle zu erleuchten]
Anspielung auf eine Formulierung im Evangelium des Matthäus (5, 3): Selig
die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich.
503, 33 - 504,3 Zukunft [...], in welcher es keine höchsten Güter und Beglückun-
gen mehr giebt, die nicht den Herzen Aller gemein sind. Der Schimpf, welcher
bisher dem Worte „gemein" anklebte, wird dann von ihm hinweggenommen sein.]
N. vertritt die Ansicht, Wagner überwinde die pejorative Bedeutung des Wortes
„gemein", weil seine Kunst das ganze Volk erreiche, die „Armen im Geiste"
ebenso wie die „Wissenden" (503, 28-30). Derartige Aussagen erscheinen als
Echo Wagners, wirken im Werkkontext allerdings wenig überzeugend, weil N.
ansonsten wie Schopenhauer einen aristokratischen Individualismus propa-
giert und ein Pathos der Distanz inszeniert. - Auch in UB II HL entstehen
Inkonsistenzen durch heterogene Grundtendenzen und divergente Argumenta-
tionsstrategien N.s, etwa dort, wo er einerseits seinen von Schopenhauer
beeinflussten elitären Individualismus und Geistesaristokratismus kultiviert,
andererseits aber im Anschluss an Wagner eine gewisse Volksnähe prätendiert
oder punktuell sogar zu einer romantischen Volksideologie tendiert. Vgl. dazu
das Kapitel II.9 „Probleme der Historienschrift" (Abschnitt 8) im Überblicks-
kommentar zu UB II HL.
504, 5-12 die unheimliche sociale Unsicherheit unserer Gegenwart [...] die Fluth
der überall unvermeidlich scheinenden Revolution] N. betrachtete die demokrati-
tober 1828: „Goethe sagte mir, daß er Carlyles Aufsatz über ihn gleichfalls die-
sen Morgen betrachtet, und so waren wir denn imstande, über die Bestrebun-
gen der Ausländer manche Worte des Lobes gegenseitig auszutauschen. ,Es ist
eine Freude, zu sehen, sagte Goethe, wie die frühere Pedanterie der Schotten
sich in Ernst und Gründlichkeit verwandelt hat. Wenn ich bedenke, wie die
Edinburger vor noch nicht langen Jahren meine Sachen behandelt haben, und
ich jetzt dagegen Carlyle's Verdienste um die deutsche Literatur erwäge, so ist
es auffallend, welch ein bedeutender Vorschritt zum Bessern geschehen ist.'
[...] ,Freilich, sagte ich, hat Carlyle den Meister [sc. Wilhelm Meisters Lehrjahre]
studiert, und so, durchdrungen von dem Wert des Buches wie er ist, möchte
er gerne, daß es sich allgemein verbreitete, er möchte gerne, daß jeder Gebilde-
te davon gleichen Gewinn und Genuß hätte.' Goethe zog mich an ein Fenster,
um mir zu antworten. ,Liebes Kind,' sagte er, ,ich will Ihnen etwas vertrauen,
das Sie sogleich über vieles hinaushelfen und das Ihnen lebenslänglich zugute
kommen soll. Meine Sachen können nicht populär werden; wer daran denkt und
dafür strebt, ist in einem Irrtum. Sie sind nicht für die Masse geschrieben, son-
dern nur für einzelne Menschen, die etwas Ähnliches wollen und suchen, und
die in ähnlichen Richtungen begriffen sind.'"
503, 28-29 die Niedrigen und Armen im Geiste mit ihrem Strahle zu erleuchten]
Anspielung auf eine Formulierung im Evangelium des Matthäus (5, 3): Selig
die Armen im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich.
503, 33 - 504,3 Zukunft [...], in welcher es keine höchsten Güter und Beglückun-
gen mehr giebt, die nicht den Herzen Aller gemein sind. Der Schimpf, welcher
bisher dem Worte „gemein" anklebte, wird dann von ihm hinweggenommen sein.]
N. vertritt die Ansicht, Wagner überwinde die pejorative Bedeutung des Wortes
„gemein", weil seine Kunst das ganze Volk erreiche, die „Armen im Geiste"
ebenso wie die „Wissenden" (503, 28-30). Derartige Aussagen erscheinen als
Echo Wagners, wirken im Werkkontext allerdings wenig überzeugend, weil N.
ansonsten wie Schopenhauer einen aristokratischen Individualismus propa-
giert und ein Pathos der Distanz inszeniert. - Auch in UB II HL entstehen
Inkonsistenzen durch heterogene Grundtendenzen und divergente Argumenta-
tionsstrategien N.s, etwa dort, wo er einerseits seinen von Schopenhauer
beeinflussten elitären Individualismus und Geistesaristokratismus kultiviert,
andererseits aber im Anschluss an Wagner eine gewisse Volksnähe prätendiert
oder punktuell sogar zu einer romantischen Volksideologie tendiert. Vgl. dazu
das Kapitel II.9 „Probleme der Historienschrift" (Abschnitt 8) im Überblicks-
kommentar zu UB II HL.
504, 5-12 die unheimliche sociale Unsicherheit unserer Gegenwart [...] die Fluth
der überall unvermeidlich scheinenden Revolution] N. betrachtete die demokrati-