Stellenkommentar UB IV WB 10, KSA 1, S. 503-504 559
sehen und sozialen Bewegungen seiner Zeit vor allem seit dem Aufstand der
Pariser Commune als eine Gefahr für Kunst und Kultur. Vgl. auch NK 504, 18-
21. Dass N. aber dennoch vorübergehend auch selbst von den revolutionären
Ideen Wagners beeinflusst war, zeigt sein Appell am Ende eines nachgelasse-
nen Notats von 1875: „Nieder mit der Kunst, welche nicht in sich zur Revoluti-
on der Gesellschaft, zur Erneuerung und Einigung des Volkes drängt!"
(NL 1875, 11 [28], KSA 8, 218). Zur Thematik der Revolution vgl. ausführlicher
NK 448, 4-10; 451, 14-18; 475, 10-11; 476, 8-9; 504, 18-21; 504, 27-30; 508, 29-
33.
504, 6-10 die Gefährdung einer Kunst [...], welche gar keine Wurzeln zu haben
scheint, wenn nicht in jener Ferne und Zukunft und die ihre blühenden Zweige
uns eher zu Gesicht kommen lässt, als das Fundament, aus dem sie hervor-
wächst] Die organologische Metaphorik, mit der N. die (von ihm auf die sozia-
len Bewegungen zurückgeführte) Gefährdung der Kunst charakterisiert, war
bereits seit Herder als bildhafte Vorstellung zur Erfassung kultureller Phäno-
mene in Deutschland weit verbreitet.
504, 14-15 die beseligende Anticipation und Bürgschaft einer besseren Zukunft]
Hier ist Wagners Bayreuth-Projekt gemeint, dem damit ein unzeitgemäßer Sta-
tus außerhalb der als problematisch beschriebenen Gegenwart zugewiesen
wird: als Garant einer besseren Zukunft.
504, 18-21 [...] er wird mit ihm sich getrieben fühlen, nach jenen bestehenden
Mächten zu suchen, welche den guten Willen haben, in den Zeiten der Erdbeben
und Umstürze die Schutzgeister der edelsten Besitzthümer der Menschheit zu
sein.] Damit suggeriert N. tendenziell Zustimmung zur konservativen Orientie-
rung des einstigen Revolutionärs Wagner: Mit „jenen bestehenden Mächten",
die als „Schutzgeister der edelsten Besitzthümer" fungieren sollen, umschreibt
N. das Patronat des bayerischen Königs Ludwig II., der Wagner und sein Bay-
reuth-Projekt als Mäzen maßgeblich förderte. Gleich nach seiner Thronbestei-
gung im Jahre 1864 reagierte König Ludwig II. von Bayern auf Wagners Suche
nach „einem deutschen Fürsten", der sich zu finanzieller Unterstützung seines
Vorhabens bereit zeigte, die Tetralogie Der Ring des Nibelungen zur Aufführung
zu bringen (vgl. dazu Wagners Vorwort zur Herausgabe der Dichtung des Büh-
nenfestspiels (1862) in GSD VI, 280 f.).
Mit „Erdbeben" sind im vorliegenden Kontext revolutionäre Erschütterun-
gen gemeint. Bereits seit der Französischen Revolution war das „Erdbeben" als
Revolutionsmetapher etabliert und weit verbreitet. Im 19. Jahrhundert hatten
die Juli-Revolution von 1830, die März-Revolution von 1848, der Pariser Com-
mune-Aufstand von 1871 sowie die sozialen und demokratischen Bewegungen
große Bedeutung. Schon Die Geburt der Tragödie zeigt, dass N. (wie viele Zeit-
sehen und sozialen Bewegungen seiner Zeit vor allem seit dem Aufstand der
Pariser Commune als eine Gefahr für Kunst und Kultur. Vgl. auch NK 504, 18-
21. Dass N. aber dennoch vorübergehend auch selbst von den revolutionären
Ideen Wagners beeinflusst war, zeigt sein Appell am Ende eines nachgelasse-
nen Notats von 1875: „Nieder mit der Kunst, welche nicht in sich zur Revoluti-
on der Gesellschaft, zur Erneuerung und Einigung des Volkes drängt!"
(NL 1875, 11 [28], KSA 8, 218). Zur Thematik der Revolution vgl. ausführlicher
NK 448, 4-10; 451, 14-18; 475, 10-11; 476, 8-9; 504, 18-21; 504, 27-30; 508, 29-
33.
504, 6-10 die Gefährdung einer Kunst [...], welche gar keine Wurzeln zu haben
scheint, wenn nicht in jener Ferne und Zukunft und die ihre blühenden Zweige
uns eher zu Gesicht kommen lässt, als das Fundament, aus dem sie hervor-
wächst] Die organologische Metaphorik, mit der N. die (von ihm auf die sozia-
len Bewegungen zurückgeführte) Gefährdung der Kunst charakterisiert, war
bereits seit Herder als bildhafte Vorstellung zur Erfassung kultureller Phäno-
mene in Deutschland weit verbreitet.
504, 14-15 die beseligende Anticipation und Bürgschaft einer besseren Zukunft]
Hier ist Wagners Bayreuth-Projekt gemeint, dem damit ein unzeitgemäßer Sta-
tus außerhalb der als problematisch beschriebenen Gegenwart zugewiesen
wird: als Garant einer besseren Zukunft.
504, 18-21 [...] er wird mit ihm sich getrieben fühlen, nach jenen bestehenden
Mächten zu suchen, welche den guten Willen haben, in den Zeiten der Erdbeben
und Umstürze die Schutzgeister der edelsten Besitzthümer der Menschheit zu
sein.] Damit suggeriert N. tendenziell Zustimmung zur konservativen Orientie-
rung des einstigen Revolutionärs Wagner: Mit „jenen bestehenden Mächten",
die als „Schutzgeister der edelsten Besitzthümer" fungieren sollen, umschreibt
N. das Patronat des bayerischen Königs Ludwig II., der Wagner und sein Bay-
reuth-Projekt als Mäzen maßgeblich förderte. Gleich nach seiner Thronbestei-
gung im Jahre 1864 reagierte König Ludwig II. von Bayern auf Wagners Suche
nach „einem deutschen Fürsten", der sich zu finanzieller Unterstützung seines
Vorhabens bereit zeigte, die Tetralogie Der Ring des Nibelungen zur Aufführung
zu bringen (vgl. dazu Wagners Vorwort zur Herausgabe der Dichtung des Büh-
nenfestspiels (1862) in GSD VI, 280 f.).
Mit „Erdbeben" sind im vorliegenden Kontext revolutionäre Erschütterun-
gen gemeint. Bereits seit der Französischen Revolution war das „Erdbeben" als
Revolutionsmetapher etabliert und weit verbreitet. Im 19. Jahrhundert hatten
die Juli-Revolution von 1830, die März-Revolution von 1848, der Pariser Com-
mune-Aufstand von 1871 sowie die sozialen und demokratischen Bewegungen
große Bedeutung. Schon Die Geburt der Tragödie zeigt, dass N. (wie viele Zeit-