560 Richard Wagner in Bayreuth
genossen aus der bürgerlichen Bildungsschicht) die „allmählich in eine dro-
hende und entsetzliche Forderung" übergehenden „socialistischen Bewe-
gungen der Gegenwart" fürchtete (KSA 1, 122, 34 - 123, 2). Vgl. auch den
Kommentar dazu in NK 1/1, 348. Außer im vorliegenden Kontext von UB IV WB
gebraucht N. ,Erdbeben' als Revolutionsmetapher auch in UB III SE. Vgl dazu
NK 369, 12-15 (ausführlicher auch zu N.s Einstellung gegenüber revolutionären
Bestrebungen).
Eine originelle Variation der Metapher ,Erdbeben' findet sich zuvor bereits
in UB II HL: Hier problematisiert N. „das Begriffsbeben, das die Wissen-
schaft erregt", wenn sie „dem Menschen das Fundament aller seiner Sicherheit
und Ruhe, den Glauben an das Beharrliche und Ewige, nimmt" (KSA 1, 330,
27-29). Solche geistigen Erschütterungen vergleicht er mit den städtischen Ver-
wüstungen „bei einem Erdbeben" (KSA 1, 330, 23-24), um dann den Primat des
Lebens gegenüber der Wissenschaft zu betonen (vgl. KSA 1, 330, 30 - 331, 6)
und Therapeutika „gegen die historische Krankheit" zu empfehlen (KSA 1, 331,
8-9). Das Tertium comparationis für die metaphorische Transformation von
,Erdbeben' in ,Begriffsbeben' liegt im eruptiven Effekt und seinen schädlichen
Konsequenzen. Daher geht in UB II HL auch der negative Bedeutungsgehalt
von „Erdbeben" auf den metaphorischen Neologismus „Begriffsbeben"
über. Zur Umkodierung von N.s „B egriffsbeben" durch den französischen
Epistemologen Gaston Bachelard vgl. NK 330, 23-29.
504, 21-24 Einzig in diesem Sinne frägt Wagner durch seine Schriften bei den
Gebildeten an, ob sie sein Vermächtniss, den kostbaren Ring seiner Kunst mit in
ihren Schatzhäusern bergen wollen] In der Geburt der Tragödie und in UB IV WB
hatte N. - analog zur Position Wagners - die „Gebildeten" als Vertreter einer
degenerierten Kultur kritisiert. An dieser Stelle jedoch macht N. die „Gebilde-
ten" im Kontext der konservativen Wendung Wagners, die er hier mitvollzieht,
zum Ziel einer ,Anfrage', die auf eine Bewahrung der „edelsten Besitzthümer
der Menschheit" (504, 21) in den „Schatzhäusern" der kulturellen Tradition
zielt.
504, 27-30 dass er dem Volke der Reformation jene Kraft, Milde und Tapferkeit
zutraut, welche nöthig ist, um „das Meer der Revolution in das Bette des ruhig
fliessenden Stromes der Menschheit einzudämmen"] Analog äußert sich N.
schon an früherer Stelle (443, 28). In der vorliegenden Textpartie übernimmt
er die Metapher vom „Meer der Revolution" und ihren Kontext von Richard
Wagner, der nachdrücklich erklärt: „Dieses Kunstwerk dem Leben selbst als
prophetischen Spiegel seiner Zukunft vorzuhalten, dünkte mich ein allerwich-
tigster Beitrag zu dem Werke der Abdämmung des Meeres der Revolution in
das Bette des ruhig fließenden Stromes der Menschheit. [...] Nach der eigenen
genossen aus der bürgerlichen Bildungsschicht) die „allmählich in eine dro-
hende und entsetzliche Forderung" übergehenden „socialistischen Bewe-
gungen der Gegenwart" fürchtete (KSA 1, 122, 34 - 123, 2). Vgl. auch den
Kommentar dazu in NK 1/1, 348. Außer im vorliegenden Kontext von UB IV WB
gebraucht N. ,Erdbeben' als Revolutionsmetapher auch in UB III SE. Vgl dazu
NK 369, 12-15 (ausführlicher auch zu N.s Einstellung gegenüber revolutionären
Bestrebungen).
Eine originelle Variation der Metapher ,Erdbeben' findet sich zuvor bereits
in UB II HL: Hier problematisiert N. „das Begriffsbeben, das die Wissen-
schaft erregt", wenn sie „dem Menschen das Fundament aller seiner Sicherheit
und Ruhe, den Glauben an das Beharrliche und Ewige, nimmt" (KSA 1, 330,
27-29). Solche geistigen Erschütterungen vergleicht er mit den städtischen Ver-
wüstungen „bei einem Erdbeben" (KSA 1, 330, 23-24), um dann den Primat des
Lebens gegenüber der Wissenschaft zu betonen (vgl. KSA 1, 330, 30 - 331, 6)
und Therapeutika „gegen die historische Krankheit" zu empfehlen (KSA 1, 331,
8-9). Das Tertium comparationis für die metaphorische Transformation von
,Erdbeben' in ,Begriffsbeben' liegt im eruptiven Effekt und seinen schädlichen
Konsequenzen. Daher geht in UB II HL auch der negative Bedeutungsgehalt
von „Erdbeben" auf den metaphorischen Neologismus „Begriffsbeben"
über. Zur Umkodierung von N.s „B egriffsbeben" durch den französischen
Epistemologen Gaston Bachelard vgl. NK 330, 23-29.
504, 21-24 Einzig in diesem Sinne frägt Wagner durch seine Schriften bei den
Gebildeten an, ob sie sein Vermächtniss, den kostbaren Ring seiner Kunst mit in
ihren Schatzhäusern bergen wollen] In der Geburt der Tragödie und in UB IV WB
hatte N. - analog zur Position Wagners - die „Gebildeten" als Vertreter einer
degenerierten Kultur kritisiert. An dieser Stelle jedoch macht N. die „Gebilde-
ten" im Kontext der konservativen Wendung Wagners, die er hier mitvollzieht,
zum Ziel einer ,Anfrage', die auf eine Bewahrung der „edelsten Besitzthümer
der Menschheit" (504, 21) in den „Schatzhäusern" der kulturellen Tradition
zielt.
504, 27-30 dass er dem Volke der Reformation jene Kraft, Milde und Tapferkeit
zutraut, welche nöthig ist, um „das Meer der Revolution in das Bette des ruhig
fliessenden Stromes der Menschheit einzudämmen"] Analog äußert sich N.
schon an früherer Stelle (443, 28). In der vorliegenden Textpartie übernimmt
er die Metapher vom „Meer der Revolution" und ihren Kontext von Richard
Wagner, der nachdrücklich erklärt: „Dieses Kunstwerk dem Leben selbst als
prophetischen Spiegel seiner Zukunft vorzuhalten, dünkte mich ein allerwich-
tigster Beitrag zu dem Werke der Abdämmung des Meeres der Revolution in
das Bette des ruhig fließenden Stromes der Menschheit. [...] Nach der eigenen