Stellenkommentar UB IV WB 11, KSA 1, S. 506 567
Verarmung und eine Reduktion der Erlebnisfähigkeit: Der Mensch „darf sich
keinem Instincte, keinem freien Flügelschlage mehr anvertrauen", sondern
steht fortwährend „bewaffnet gegen sich selber" da (KSA 3, 543, 22-24). Inso-
fern attestiert N. dem Stoizismus in Menschliches, Allzumenschliches II eine Per-
version, indem er erklärt: Die stoische Erstarrung „verkehrt endlich die Natur"
(KSA 2, 471, 4). Diese Tendenz setzt sich in Jenseits von Gut und Böse fort, wo
N. in einer mehrgliedrigen subversiven Argumentation das stoische Prinzip
,naturgemäßen Lebens' kritisch hinterfragt (KSA 5, 21, 25 - 22, 28). Im Text 326
der Fröhlichen Wissenschaft unterstellt N. den Stoikern und anderen Moralpre-
digern Unredlichkeit und strategische Lügen: Er behauptet, dass sie „das über-
reiche Glück" der „leidenschaftlichen Menschen" allein mit dem pragmati-
schen Kalkül verschweigen, „eine Widerlegung ihrer Theorie" zu verhindern,
„nach der alles Glück erst mit der Vernichtung der Leidenschaft und dem
Schweigen des Willens entsteht!" (KSA 3, 554, 22-27). Entgegen einer stoischen
„Versteinerung als Gegenmittel gegen das Leiden" (NL 1881, 15 [55], KSA 9,
653) gilt es laut N. das ganze Spektrum der Gefühle auszuloten, das auch Extre-
me einschließt: tiefen Schmerz ebenso wie „neue Sternenwelten der Freude"
(KSA 3, 384, 16). Wer hingegen einen „intellektuellen Stoicismus" kultiviere
(KSA 5, 382, 11-12), laufe Gefahr, durch Askese emotional zu verarmen (KSA 5,
403, 8-10) und dieses Defizit dann mit einem spezifischen Willen zur Macht zu
kompensieren: „Die Asketen erlangen ein ungeheures Gefühl von Macht; die
Stoiker ebenfalls, weil sie sich immer siegreich, unerschüttert zeigen müssen"
(NL 1880, 4 [204], KSA 9, 151).
Trotz dieser radikalen Kritik hebt N. allerdings auch positive Aspekte des
Stoizismus hervor und bringt das durch die stoischen Philosophen propagierte
Ethos sogar in eine charakteristische Beziehung zu seinem Konzept des ,freien
Geistes'. So reflektiert er in Jenseits von Gut und Böse über die „Philosophen
der Zukunft", als deren Vorläufer er sich selbst und die anderen „freien Geis-
ter" seiner Gegenwart betrachtet (KSA 5, 60, 22-28). Hier plädiert N. für Strate-
gien, um die Höherentwicklung der menschlichen Gattung zu fördern: Anhal-
tender „Druck und Zwang", auch unter Einfluss des „Stoicismus", erscheint
ihm als optimale Voraussetzung dafür, dass sich der menschliche „Geist [...]
in's Feine und Verwegene entwickeln" kann (KSA 5, 61, 29-33). Dass N. den
,freien Geist' tendenziell nach den Prämissen stoischer Disziplin modelliert,
wird deutlich, wenn er das „Gewaltsame" als „das Mittel" zur ,Züchtung' des
Geistes, als Ursprung seiner Stärke, Beweglichkeit und „rücksichtslose[n] Neu-
gierde" beschreibt (KSA 5, 109, 12-15), ja sogar eine „Selbst-Tyrannei" propa-
giert (KSA 5, 22, 20-21). Das stoische Ethos der Selbstdisziplin erhält hier eine
wichtige Funktion. So folgt der emphatischen Apostrophe „wir freien Geister"
(KSA 5, 162, 19) nur wenig später mit identifikatorischem Pathos der Appell:
„bleiben wir hart, wir letzten Stoiker!" (KSA 5, 162, 28). Vgl. auch NK 261, 11-18.
Verarmung und eine Reduktion der Erlebnisfähigkeit: Der Mensch „darf sich
keinem Instincte, keinem freien Flügelschlage mehr anvertrauen", sondern
steht fortwährend „bewaffnet gegen sich selber" da (KSA 3, 543, 22-24). Inso-
fern attestiert N. dem Stoizismus in Menschliches, Allzumenschliches II eine Per-
version, indem er erklärt: Die stoische Erstarrung „verkehrt endlich die Natur"
(KSA 2, 471, 4). Diese Tendenz setzt sich in Jenseits von Gut und Böse fort, wo
N. in einer mehrgliedrigen subversiven Argumentation das stoische Prinzip
,naturgemäßen Lebens' kritisch hinterfragt (KSA 5, 21, 25 - 22, 28). Im Text 326
der Fröhlichen Wissenschaft unterstellt N. den Stoikern und anderen Moralpre-
digern Unredlichkeit und strategische Lügen: Er behauptet, dass sie „das über-
reiche Glück" der „leidenschaftlichen Menschen" allein mit dem pragmati-
schen Kalkül verschweigen, „eine Widerlegung ihrer Theorie" zu verhindern,
„nach der alles Glück erst mit der Vernichtung der Leidenschaft und dem
Schweigen des Willens entsteht!" (KSA 3, 554, 22-27). Entgegen einer stoischen
„Versteinerung als Gegenmittel gegen das Leiden" (NL 1881, 15 [55], KSA 9,
653) gilt es laut N. das ganze Spektrum der Gefühle auszuloten, das auch Extre-
me einschließt: tiefen Schmerz ebenso wie „neue Sternenwelten der Freude"
(KSA 3, 384, 16). Wer hingegen einen „intellektuellen Stoicismus" kultiviere
(KSA 5, 382, 11-12), laufe Gefahr, durch Askese emotional zu verarmen (KSA 5,
403, 8-10) und dieses Defizit dann mit einem spezifischen Willen zur Macht zu
kompensieren: „Die Asketen erlangen ein ungeheures Gefühl von Macht; die
Stoiker ebenfalls, weil sie sich immer siegreich, unerschüttert zeigen müssen"
(NL 1880, 4 [204], KSA 9, 151).
Trotz dieser radikalen Kritik hebt N. allerdings auch positive Aspekte des
Stoizismus hervor und bringt das durch die stoischen Philosophen propagierte
Ethos sogar in eine charakteristische Beziehung zu seinem Konzept des ,freien
Geistes'. So reflektiert er in Jenseits von Gut und Böse über die „Philosophen
der Zukunft", als deren Vorläufer er sich selbst und die anderen „freien Geis-
ter" seiner Gegenwart betrachtet (KSA 5, 60, 22-28). Hier plädiert N. für Strate-
gien, um die Höherentwicklung der menschlichen Gattung zu fördern: Anhal-
tender „Druck und Zwang", auch unter Einfluss des „Stoicismus", erscheint
ihm als optimale Voraussetzung dafür, dass sich der menschliche „Geist [...]
in's Feine und Verwegene entwickeln" kann (KSA 5, 61, 29-33). Dass N. den
,freien Geist' tendenziell nach den Prämissen stoischer Disziplin modelliert,
wird deutlich, wenn er das „Gewaltsame" als „das Mittel" zur ,Züchtung' des
Geistes, als Ursprung seiner Stärke, Beweglichkeit und „rücksichtslose[n] Neu-
gierde" beschreibt (KSA 5, 109, 12-15), ja sogar eine „Selbst-Tyrannei" propa-
giert (KSA 5, 22, 20-21). Das stoische Ethos der Selbstdisziplin erhält hier eine
wichtige Funktion. So folgt der emphatischen Apostrophe „wir freien Geister"
(KSA 5, 162, 19) nur wenig später mit identifikatorischem Pathos der Appell:
„bleiben wir hart, wir letzten Stoiker!" (KSA 5, 162, 28). Vgl. auch NK 261, 11-18.