Metadaten

Neymeyr, Barbara; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 1,4): Kommentar zu Nietzsches "Unzeitgemässen Betrachtungen": III. Schopenhauer als Erzieher, IV. Richard Wagner in Bayreuth — Berlin, Boston: de Gruyter, 2020

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69928#0595
Lizenz: In Copyright
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
568 Richard Wagner in Bayreuth

Im vorliegenden Kontext von UB IV WB jedoch grenzt sich N. entschieden
vom stoischen Ideal der Apatheia und Ataraxia ab und propagiert die „Leiden-
schaft" als Ausdruck authentischer „Natur". In der Textpassage, die von 491,
9 bis 495, 8 reicht, schreibt er der Musik Wagners eine solche „Leidenschaft"
zu. Auf den folgenden Seiten verbindet N. das durch emphatische Wiederho-
lung hervorgehobene Motiv des innerlich ,freien Menschen' leitmotivisch mit
der Thematik der ,Zukunft'. Rhetorisch forciert wird es dann noch durch eine
Frage, die auf die ,Zukunft' zielt und als Appell an die Leser zu verstehen ist:
„Wo sind [...] die Freien, Furchtlosen, in unschuldiger Selbstigkeit aus sich
Wachsenden und Blühenden, die Siegfriede unter euch?" (509, 26-31). Indem
sich N. mehrmals auf die „Natur" beruft und sich gegen die „Unnatur" wendet,
lässt er den ,freien Menschen' als den jenseits aller entfremdenden Konventio-
nen Lebenden erscheinen. - Im Text 99 der Fröhlichen Wissenschaft (KSA 3,
457, 6-18) zitiert N. (mit leichten Varianten) aus dem 11. Kapitel von UB IV WB
(509, 29-30; 506, 29 - 507, 3), allerdings in einem anders akzentuierten Kon-
text, in dem er die Problematik von Wagners Status als Schopenhauerianer
betont und ihm dabei auch eine undurchschaute Inkonsequenz attestiert:
„Nichts geht gerade so sehr wider den Geist Schopenhauer's, als das eigentlich
Wagnerische an den Helden Wagner's: [...] die Unschuld der höchsten Selbst-
sucht, der Glaube an die grosse Leidenschaft als an das Gute an sich, mit Ei-
nem Worte, das Siegfriedhafte im Antlitze seiner Helden" (KSA 3, 455, 11-16).
Auch noch in Jenseits von Gut und Böse verbindet N. das Freiheitsmotiv
mit Wagners Siegfried-Figur: „[...] vielleicht ist sogar das Merkwürdigste, was
Richard Wagner geschaffen hat, der ganzen so späten lateinischen Rasse für
immer und nicht nur für heute unzugänglich, unnachfühlbar, unnachahmbar:
die Gestalt des Siegfried, jenes sehr freien Menschen, der in der That bei
weitem zu frei, zu hart, zu wohlgemuth, zu gesund, zu antikatholisch für
den Geschmack alter und mürber Culturvölker sein mag. Er mag sogar eine
Sünde wider die Romantik gewesen sein, dieser antiromantische Siegfried"
(KSA 5, 203, 33 - 204, 7).
507, 13-16 Der Unnatur, wenn sie einmal zum Bewusstsein über sich gekommen
ist, bleibt nur die Sehnsucht in's Nichts übrig, die Natur dagegen begehrt nach
Verwandelung durch Liebe: jene will nicht sein, diese will anders sein.] Impli-
zit reflektiert N. hier einen markanten Unterschied zwischen Schopenhauer
und Wagner. Denn Schopenhauer lässt seine Philosophie in der Welt als Wille
und Vorstellung in das Idealziel des „Nichts" münden (WWV I, § 71, Hü 487),
das er als Selbstauslöschung des permanent getriebenen und leidenden Wil-
lens' versteht, und wertet im Rahmen seiner pessimistischen Willensmetaphy-
sik auch die „Natur" ab. In der Geburt der Tragödie hatte N. die in UB IV WB
mit deutlichem Vorbehalt erwähnte „Sehnsucht in's Nichts" noch mit der Sage
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften