Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 21-24 89
„Moral" wertet nach kollektiven Maßstäben alle individuellen Impulse ab: Der
Einzelne muss sich ihr im Extremfall „opfern" - dann gilt er als besonders
„sittlich".
Der normenfixierten Kollektivethik stellt N. eine nur von Ausnahme-Per-
sönlichkeiten zu beanspruchende Individualethik gegenüber. Er denkt hierbei
an Sokrates. Schon vorher hatte N. die moralische Wertung „böse" aus der
Wertungsperspektive der dem Herkommen folgenden und deshalb als „gut"
geltenden Menschen abgeleitet: Das sich vom Herkommen emanzipierende In-
dividuum, „der freie Mensch" (22, 6), mit dem sich N. in seiner Rolle als ,Frei-
geist' identifiziert, gilt denen als „böse", die vom Herkommen bestimmt sind
(22, 9). In einer Kreisbewegung der Gedankenführung kehrt N. zu dieser Genese
des moralischen Begriffs „böse" zurück: Die Ausnahmemenschen, allgemei-
ner: die Nonkonformisten, „lösen sich aus der Gemeinde aus, als Unsittliche,
und sind, im tiefsten Verstände, böse" (23, 25-27). Mit dieser Erklärung der
Entstehung von Moral, d. h. von moralischen Wertungen, verfolgt N. das Ziel,
für das große Individuum „Originalität" zu beanspruchen (24, 17) und für eine
kleine Elite, die er als die „Besten" bezeichnet (24, 18), einen Freiraum „jen-
seits von Gut und Böse" zu reklamieren. Abschließend aber gibt er zu verste-
hen, dass die „Herrschaft der Sittlichkeit der Sitte" (24, 16) diesen Freiraum
auch aus dem eigenen Innern des Ausnahmemenschen heraus einengt, weil
sie auch ihm „ein böses Gewissen" (24, 17) zu erzeugen droht - als Folge letzt-
lich doch internalisierter Normen.
In der Logik dieser Argumentation liegt es, dass die kollektive „Moral" nur
aus der Perspektive der Ausnahmemenschen und in deren Interesse aufgeho-
ben erscheint. Auch in anderen Texten der Morgenröthe, wie in seinen Schrif-
ten überhaupt, favorisiert N. das Individuum, den „Einzelnen". Dessen höchste
Ausprägungen sind in den Frühschriften das „Genie" und das „Original", spä-
ter, seit Menschliches, Allzumenschliches der nonkonformistische „Freigeist",
den er hier in M 9 zum Idealbild des „freien Menschen" (22, 6) erhebt; noch
später derjenige, der am stärksten den Willen zur Macht verkörpert: der „Be-
fehlshaber" und „Führer". In Korrelation zu diesem Individualismus, der sich
mit einer Tendenz zum Aristokratismus verbindet, steht die Abneigung gegen
alle modernen, zur Demokratie oder zum ,Sozialismus' führenden Entwicklun-
gen, gegen die „Masse" und die „Herde", auch gegen die vom englischen Utili-
tarismus, insbesondere von John Stuart Mill, propagierte ethische Orientierung
am Gemeinwohl.
10
24, 21 f. Gegenbewegung zwischen Sinn der Sittlichkeit und Sinn
der Causalität.] Hier reflektiert N. die auflösende Wirkung moderner wis-
„Moral" wertet nach kollektiven Maßstäben alle individuellen Impulse ab: Der
Einzelne muss sich ihr im Extremfall „opfern" - dann gilt er als besonders
„sittlich".
Der normenfixierten Kollektivethik stellt N. eine nur von Ausnahme-Per-
sönlichkeiten zu beanspruchende Individualethik gegenüber. Er denkt hierbei
an Sokrates. Schon vorher hatte N. die moralische Wertung „böse" aus der
Wertungsperspektive der dem Herkommen folgenden und deshalb als „gut"
geltenden Menschen abgeleitet: Das sich vom Herkommen emanzipierende In-
dividuum, „der freie Mensch" (22, 6), mit dem sich N. in seiner Rolle als ,Frei-
geist' identifiziert, gilt denen als „böse", die vom Herkommen bestimmt sind
(22, 9). In einer Kreisbewegung der Gedankenführung kehrt N. zu dieser Genese
des moralischen Begriffs „böse" zurück: Die Ausnahmemenschen, allgemei-
ner: die Nonkonformisten, „lösen sich aus der Gemeinde aus, als Unsittliche,
und sind, im tiefsten Verstände, böse" (23, 25-27). Mit dieser Erklärung der
Entstehung von Moral, d. h. von moralischen Wertungen, verfolgt N. das Ziel,
für das große Individuum „Originalität" zu beanspruchen (24, 17) und für eine
kleine Elite, die er als die „Besten" bezeichnet (24, 18), einen Freiraum „jen-
seits von Gut und Böse" zu reklamieren. Abschließend aber gibt er zu verste-
hen, dass die „Herrschaft der Sittlichkeit der Sitte" (24, 16) diesen Freiraum
auch aus dem eigenen Innern des Ausnahmemenschen heraus einengt, weil
sie auch ihm „ein böses Gewissen" (24, 17) zu erzeugen droht - als Folge letzt-
lich doch internalisierter Normen.
In der Logik dieser Argumentation liegt es, dass die kollektive „Moral" nur
aus der Perspektive der Ausnahmemenschen und in deren Interesse aufgeho-
ben erscheint. Auch in anderen Texten der Morgenröthe, wie in seinen Schrif-
ten überhaupt, favorisiert N. das Individuum, den „Einzelnen". Dessen höchste
Ausprägungen sind in den Frühschriften das „Genie" und das „Original", spä-
ter, seit Menschliches, Allzumenschliches der nonkonformistische „Freigeist",
den er hier in M 9 zum Idealbild des „freien Menschen" (22, 6) erhebt; noch
später derjenige, der am stärksten den Willen zur Macht verkörpert: der „Be-
fehlshaber" und „Führer". In Korrelation zu diesem Individualismus, der sich
mit einer Tendenz zum Aristokratismus verbindet, steht die Abneigung gegen
alle modernen, zur Demokratie oder zum ,Sozialismus' führenden Entwicklun-
gen, gegen die „Masse" und die „Herde", auch gegen die vom englischen Utili-
tarismus, insbesondere von John Stuart Mill, propagierte ethische Orientierung
am Gemeinwohl.
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24, 21 f. Gegenbewegung zwischen Sinn der Sittlichkeit und Sinn
der Causalität.] Hier reflektiert N. die auflösende Wirkung moderner wis-