90 Morgenröthe
senschaftlicher Erkenntnisse, deren Inbegriff die „Causalität" ist, auf die ,Mo-
ral'. Das Herkommen und damit auch die Sitte, die sich zu einer präskriptiven
Moral verfestigt hat, führt er generalisierend auf die vorwissenschaftliche An-
nahme „phantastischer Causalitäten" (24, 27 f.) zurück, um vom
Standpunkt des Empirismus und des Realismus aus die „phantastische" durch
die „wirkliche Welt" (24, 29 f.) zu dementieren. Die Romantik verfuhr gerade
umgekehrt.
Wie schon in M 9 (22, 18) widmet N. dem Aspekt der Geltung, der „Autorität
der Sitte" (24, 32) besondere Aufmerksamkeit. Im Sinne der aufklärerischen
Vorurteilskritik, für die das Vorurteil aus Autoritätsglauben (praeiudicium auc-
toritatis) an erster Stelle stand, zielt er auf die Untergrabung dieser vorurteils-
haften Haltung im Hinblick auf die Autorität der Moral. In M 9 hatte er mit der
Vorstellung der Autorität eine Untertanenpsychologie verbunden. „Was ist das
Herkommen?" hatte er gefragt, und geantwortet: „Eine höhere Autorität, wel-
cher man gehorcht [...], weil sie befiehlt" (22, 17-20), und zwar nicht, „weil
sie das uns Nützliche befiehlt", sondern einfach nur, weil sie befiehlt. N.
erwägt nicht den durchaus im Nützlichkeitsdenken (komplementär: in der
Furcht vor Schaden) wurzelnden Opportunismus des Gehorsams gegenüber
der Autorität - einen Opportunismus, der keineswegs vorurteilshaft und vom
Autoritätsglauben abhängig zu sein braucht, sondern pragmatisch Vorteilen
statt Vorurteilen folgt.
Die philosophische Aufgabe der Untergrabung einer vorurteilshaften ,Mo-
ral' sieht N. in diesem Text vorgegeben von einem mit dem Geschichtsprozess
der Moderne konvergierenden Mentalitätswandel („die Sittlichkeit im Grossen
hat eingebüsst"; 24, 32-25, 1). Damit erscheint die von ihm immer wieder bean-
spruchte „Unzeitgemäßheit" und „Originalität" seines Denkens nicht verein-
bar. Denn es stellt sich die Frage, ob und inwiefern der Philosoph selbst mit
seiner Vorurteilskritik im Hinblick auf die Moral noch eine eigene Aufgabe
hat - oder ob er sich nicht bloß als Erfüllungsgehilfen des sich ohnehin vollzie-
henden geschichtlichen Prozesses verstehen muss.
11
25, 4 Volksmoral und Volksmedicin.] Mit der Feststellung „Volksmedi-
cin und Volksmoral gehören zusammen" (25, 18 f.) führt N. seine subversiven
Angriffe auf eine Moral fort, die seiner Grundthese zufolge bloß auf Vorurteilen
beruht. Die „Volksmoral" erscheint in diesem Kontext als eine besonders nied-
rige Form der Moral; sie bleibt aber insofern von besonderer Bedeutung, als
sie die am weitesten verbreitete ist. Die „Volksmedizin" war im Laufe des
19. Jahrhunderts aufgrund der großen Durchbrüche in der wissenschaftlichen
senschaftlicher Erkenntnisse, deren Inbegriff die „Causalität" ist, auf die ,Mo-
ral'. Das Herkommen und damit auch die Sitte, die sich zu einer präskriptiven
Moral verfestigt hat, führt er generalisierend auf die vorwissenschaftliche An-
nahme „phantastischer Causalitäten" (24, 27 f.) zurück, um vom
Standpunkt des Empirismus und des Realismus aus die „phantastische" durch
die „wirkliche Welt" (24, 29 f.) zu dementieren. Die Romantik verfuhr gerade
umgekehrt.
Wie schon in M 9 (22, 18) widmet N. dem Aspekt der Geltung, der „Autorität
der Sitte" (24, 32) besondere Aufmerksamkeit. Im Sinne der aufklärerischen
Vorurteilskritik, für die das Vorurteil aus Autoritätsglauben (praeiudicium auc-
toritatis) an erster Stelle stand, zielt er auf die Untergrabung dieser vorurteils-
haften Haltung im Hinblick auf die Autorität der Moral. In M 9 hatte er mit der
Vorstellung der Autorität eine Untertanenpsychologie verbunden. „Was ist das
Herkommen?" hatte er gefragt, und geantwortet: „Eine höhere Autorität, wel-
cher man gehorcht [...], weil sie befiehlt" (22, 17-20), und zwar nicht, „weil
sie das uns Nützliche befiehlt", sondern einfach nur, weil sie befiehlt. N.
erwägt nicht den durchaus im Nützlichkeitsdenken (komplementär: in der
Furcht vor Schaden) wurzelnden Opportunismus des Gehorsams gegenüber
der Autorität - einen Opportunismus, der keineswegs vorurteilshaft und vom
Autoritätsglauben abhängig zu sein braucht, sondern pragmatisch Vorteilen
statt Vorurteilen folgt.
Die philosophische Aufgabe der Untergrabung einer vorurteilshaften ,Mo-
ral' sieht N. in diesem Text vorgegeben von einem mit dem Geschichtsprozess
der Moderne konvergierenden Mentalitätswandel („die Sittlichkeit im Grossen
hat eingebüsst"; 24, 32-25, 1). Damit erscheint die von ihm immer wieder bean-
spruchte „Unzeitgemäßheit" und „Originalität" seines Denkens nicht verein-
bar. Denn es stellt sich die Frage, ob und inwiefern der Philosoph selbst mit
seiner Vorurteilskritik im Hinblick auf die Moral noch eine eigene Aufgabe
hat - oder ob er sich nicht bloß als Erfüllungsgehilfen des sich ohnehin vollzie-
henden geschichtlichen Prozesses verstehen muss.
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25, 4 Volksmoral und Volksmedicin.] Mit der Feststellung „Volksmedi-
cin und Volksmoral gehören zusammen" (25, 18 f.) führt N. seine subversiven
Angriffe auf eine Moral fort, die seiner Grundthese zufolge bloß auf Vorurteilen
beruht. Die „Volksmoral" erscheint in diesem Kontext als eine besonders nied-
rige Form der Moral; sie bleibt aber insofern von besonderer Bedeutung, als
sie die am weitesten verbreitete ist. Die „Volksmedizin" war im Laufe des
19. Jahrhunderts aufgrund der großen Durchbrüche in der wissenschaftlichen