Metadaten

Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0043
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
28 Morgenröthe

wendet, in einem Brief an Friedrich Jacobi vom 14. Mai 1803 mit den Worten
kommentiert: „Jeder Himmelsstürmer findet im Titan seine Hölle". Eigentlich
müsse sein Roman deshalb „Anti-Titan" heißen. Abgeschlossen hatte er ihn
mit der großen Parabelerzählung vom Absturz des „Luftschiffers Giannozzo",
eines modernen Ikarus. Das überraschend genaue Echo gibt N. mit der Parabel
„Wir Luft-Schifffahrer des Geistes", mit der er die Morgenröthe enden lässt. Am
nächsten freilich lag N. die Gestalt des Fliegenden Holländers, den Wagner in
seiner Schrift Eine Mitteilung an meine Freunde als Synthese von Odysseus,
Ahasver und Kolumbus deutete.
Nietzsches Stil hängt eng zusammen mit seiner methodisch-unmethodi-
schen Darstellungsstrategie. Oft bewegen sich die Texte selbst dort, wo sie ei-
nen konzeptionellen Zusammenhang erkennen lassen, nach Art eines Perpetu-
um mobile. Ununterbrochen repetiert, variiert, revidiert, assoziiert, räsoniert,
pointiert und maskiert N. die aus antiken Schriftstellern und zeitgenössischen
Publikationen absorbierten Gedanken, er bricht sie ab, greift sie wieder auf
und lässt sie in einem „beweglichen Heer von Metaphern" entgleiten. Er ent-
wirft Positionen und dazu die Gegenpositionen, wie um zu demonstrieren, dass
es nichts Festes gibt. Er lanciert pathetisch provozierende Fragen und gibt em-
phatische Antworten, die er alsbald selbst wieder in Frage stellt. Diese Art des
Schreibens wollte er als „Experimentalphilosophie" verstehen (vgl. hierzu den
ausführlichen Kommentar zu M 453), doch ebenso sehr hält er alles im Fluss,
in dem jede Bewegung dem Nichts oder bloß dem isolierten Ego zutreibt, an
dem ihm in einer ganzen Reihe der für die Morgenröthe verfassten Texte expli-
zit oder implizit so sehr liegt - nach dem er sucht, ohne es zu finden.
Der Stellenwert der Morgenröthe in Nietzsches Werl<
Das Werk, dem N. den hoffnungsvollen Titel Morgenröthe gab, steht zwischen
der weitgehend auf Desillusionierung gestimmten Aphorismensammlung
Menschliches, Allzumenschliches und der selbstverordneten Fröhlichkeit der
Fröhlichen Wissenschaft. Allerdings ist die zeitliche und die inhaltliche Grenze
zwischen diesen Werken fließend. Darauf deutet schon der Umstand hin, dass
N. am 25. Januar 1882, ein halbes Jahr nach Erscheinen der Morgenröthe mit
ihren fünf (!) Büchern an Heinrich Köselitz schrieb: „Ein paar Worte über mei-
ne ,Litteratur'. Ich bin seit einigen Tagen mit Buch VI, VII und VIII der ,Morgen-
röthe' fertig, und damit ist meine Arbeit für diesmal gethan. Denn Buch 9 und
10 will ich mir für den nächsten Winter vorbehalten - ich bin noch nicht reif
genug für die elementaren Gedanken, die ich in diesen Schluß-Büchern dar-
stellen will" (KSB 6/KGB ΙΙΙ/1, Nr. 190). Dieser Mitteilung zufolge plante N. eine
Fortsetzung der Morgenröthe in einem weiteren Band mit gleichem Titel, aber
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften