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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0042
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Überblickskommentar 27

La Rochefoucauld pflegte und wie ihn Goethe in seinen Maximen und Reflexio-
nen als Ausdruck von Erfahrungsweisheit wählte, zeugt von distanzierter Dia-
gnose und von geistreich desillusionierter Weltklugheit. Er kultiviert nicht das
Pathos und schon gar nicht die Passion des einsamen Problemdenkers, son-
dern gilt mehr der beobachteten Wirklichkeit. Allerdings konnte N. den selbst-
quälerischen, vom Zweifel, auch vom Selbstzweifel heimgesuchten Seelenzu-
stand des Wahrheitssuchers in Pascals Pensees finden, für den er auch als Lei-
denden Sympathie empfand.
N. selbst verstand seine vom aufklärerischen Ideal des Freigeists bestimm-
ten ,aphoristischen' Schriften als große Loslösung von Wagner, zugleich als
stilistische Befreiung von einem als spezifisch deutsch empfundenen Geist der
Schwere und von mystischer Dunkelheit. Insofern entspricht die Neu-Orientie-
rung am Aphoristischen und Essayistischen dem Streben nach einer übergrei-
fenden geistigen Neu-Orientierung. Dennoch tut sich eine tiefe Kluft zwischen
dem traditionellen Aphorismus mit seiner auch geistig klaren Grenzziehung
(aphorizein = „abgrenzen") und N.s Tendenz zu Grenzüberschreitungen und
zur Polychromie auf. Es handelt sich um die Kluft zwischen einer meist aufklä-
rerischen Rationalität, die innerhalb der Grenzen der Vernunft bleibt, und ei-
nem Entgrenzungsverlangen, ja einem romantischen Unendlichkeitstrieb, der
bei N. immer wieder durchbricht. Er zeigt sich besonders deutlich im letzten
Aphorismus der Morgenröthe „Wir Luft-Schifffahrer des Geistes",
aber auch schon in dem für die stilistische Charakterisierung herangezogenen
ersten Aphorismus des fünften Buchs: „Im grossen Schweigen". Dieser
gipfelt in einem ins Grenzenlose deutenden Gestus der Selbstüberbietung und
Selbstübersteigung, wenn das hybridisierte Ich fragt: „Muss ich nicht meines
Mitleidens spotten? Meines Spottes spotten?" Darauf folgt die nachdrückliche
Betonung dieser auf das Konzept des „Übermenschen" vorausweisenden Selbst-
überhebung bis ins Wortwörtliche hinein: „über sich selber ruhend? Über sich
selber erhaben?"
Im 18. Jahrhundert ließen sich Münchhausens Abenteuer, deren burlesken
Höhepunkt der Versuch darstellt, sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu zie-
hen, als Satire auf den Autonomismus der Genie-Ideologie und den Titanismus
der Stürmer und Dränger verstehen; später führte der romantische Infinitismus
zu einer tendenziell endlosen Selbstreflexivität, die in leere Selbstbespiegelung
wenn nicht sogar in Selbstzerstörung überzugehen drohte. Dieser romantische
Infinitismus beförderte eine mit Siebenmeilenstiefeln ins Metaphysische und
zugleich in den Nihilismus ausschreitende Subjektivitätsphilosophie. Obwohl
N. in der Morgenröthe ein partiell aufklärerisches Programm verfolgt, schlägt
diese radikal-romantische Vorkodierung hier immer von Neuem durch. Jean
Paul hatte seinen Titan, der sich gegen den genialisch-hybriden Titanismus
 
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