Stellenkommentar Fünftes Buch, KSA 3, S. 257-260 365
Fünftes Buch
423
259, 3 Im grossen Schweigen.] Zu diesem Schlüsseltext vgl. den Über-
blickskommentar S. 25-27. Die Rede von den Glocken, die das Ave Maria (259,
5) läuten, meinen einen Brauch der Katholischen Kirche, der auf das späte
Mittelalter zurückgeht: Die Glocken läuten am Morgen, Mittag und Abend. Die-
ses Glockengeläut war mit einem Gebet aus drei „Ave Maria" und je einem
Bibelvers verbunden und sollte zentrale Glaubensinhalte befestigen. Da im Fol-
genden von diesem Läuten „am Kreuzwege von Tag und Nacht" die Rede ist,
meint N. hier das abendliche Läuten. Es wird ambivalent als „thörichte[r], aber
süsse[r] Lärm" wahrgenommen, weil die Glaubenswahrheit, auf die es sich ur-
sprünglich bezieht, nunmehr bloß noch als vernunftwidriger „Lärm" erscheint
und dennoch eine Empfindung aus früheren Zeiten stimmungshaft nachklingt.
Es handelt sich um den Reflex einer Bemerkung Montaignes in seinen Essais.
Dieser führt dort ein sinnfälliges Beispiel dafür an, dass uns Gewöhnung selbst
das an sich Störende nicht mehr empfinden lässt, ja uns sogar wohltut: „Je
loge chez moy en une tour oü, ä la diane et ä la retraitte, une fort grosse cloche
sonne tous les jours PAve Maria. Ce tintamarre effraye ma tour mesme; et, aux
premiers jours me semblant insupportable, en peu de temps m'apprivoise, de
maniere que je l'oy sans offense et souvent sans m'en esveiller" (Montaigne,
Livre I, Chapitre XXIII) - „Ich wohne zu Hause in einem Turm [in den Turm
seines Schlosses zog sich Montaigne gern zum Meditieren und Schreiben zu-
rück], wo morgens und abends eine mächtige Glocke jeden Tag das ,Ave Maria'
läutet. Dieser Lärm erschüttert sogar meinen Turm; und, obwohl er mir in den
ersten Tagen unerträglich schien, besänftigt er mich in kurzer Zeit, so dass ich
ihn höre ohne gestört zu sein und oft ohne aufzuwachen". In Stendhals Schrift
De l'amour, die N. nach Ausweis seiner nachgelassenen Notate in der Zeit der
Morgenröthe studierte, konnte er unter dem Datum 17. April 1817 folgende Be-
merkung über das Ave Maria finden: „Ave Maria (twilight), en Italie heure de
la tendresse, des plaisirs de l'äme et de la melancolie: sensation augmentee
par le son de ces belles cloches. (Heures des plaisirs qui ne tiennent aux sens
que par les Souvenirs.") („Ave Maria (twilight), in Italien die Stunde zärtlicher
Rührung, des seelischen Wohlbefindens und der Melancholie: eine Empfin-
dung, verstärkt durch den Klang dieser wundervollen Glocken. (Stunden seeli-
scher Erbauung, die in den Sinnen nur durch Erinnerungen bleiben").
424
260, 11 Für wen die Wahrheit da ist.] Mit einem „Vielleicht" (260, 26)
kennzeichnet N. die folgenden Aussagen als spekulativ und experimentell. Er
Fünftes Buch
423
259, 3 Im grossen Schweigen.] Zu diesem Schlüsseltext vgl. den Über-
blickskommentar S. 25-27. Die Rede von den Glocken, die das Ave Maria (259,
5) läuten, meinen einen Brauch der Katholischen Kirche, der auf das späte
Mittelalter zurückgeht: Die Glocken läuten am Morgen, Mittag und Abend. Die-
ses Glockengeläut war mit einem Gebet aus drei „Ave Maria" und je einem
Bibelvers verbunden und sollte zentrale Glaubensinhalte befestigen. Da im Fol-
genden von diesem Läuten „am Kreuzwege von Tag und Nacht" die Rede ist,
meint N. hier das abendliche Läuten. Es wird ambivalent als „thörichte[r], aber
süsse[r] Lärm" wahrgenommen, weil die Glaubenswahrheit, auf die es sich ur-
sprünglich bezieht, nunmehr bloß noch als vernunftwidriger „Lärm" erscheint
und dennoch eine Empfindung aus früheren Zeiten stimmungshaft nachklingt.
Es handelt sich um den Reflex einer Bemerkung Montaignes in seinen Essais.
Dieser führt dort ein sinnfälliges Beispiel dafür an, dass uns Gewöhnung selbst
das an sich Störende nicht mehr empfinden lässt, ja uns sogar wohltut: „Je
loge chez moy en une tour oü, ä la diane et ä la retraitte, une fort grosse cloche
sonne tous les jours PAve Maria. Ce tintamarre effraye ma tour mesme; et, aux
premiers jours me semblant insupportable, en peu de temps m'apprivoise, de
maniere que je l'oy sans offense et souvent sans m'en esveiller" (Montaigne,
Livre I, Chapitre XXIII) - „Ich wohne zu Hause in einem Turm [in den Turm
seines Schlosses zog sich Montaigne gern zum Meditieren und Schreiben zu-
rück], wo morgens und abends eine mächtige Glocke jeden Tag das ,Ave Maria'
läutet. Dieser Lärm erschüttert sogar meinen Turm; und, obwohl er mir in den
ersten Tagen unerträglich schien, besänftigt er mich in kurzer Zeit, so dass ich
ihn höre ohne gestört zu sein und oft ohne aufzuwachen". In Stendhals Schrift
De l'amour, die N. nach Ausweis seiner nachgelassenen Notate in der Zeit der
Morgenröthe studierte, konnte er unter dem Datum 17. April 1817 folgende Be-
merkung über das Ave Maria finden: „Ave Maria (twilight), en Italie heure de
la tendresse, des plaisirs de l'äme et de la melancolie: sensation augmentee
par le son de ces belles cloches. (Heures des plaisirs qui ne tiennent aux sens
que par les Souvenirs.") („Ave Maria (twilight), in Italien die Stunde zärtlicher
Rührung, des seelischen Wohlbefindens und der Melancholie: eine Empfin-
dung, verstärkt durch den Klang dieser wundervollen Glocken. (Stunden seeli-
scher Erbauung, die in den Sinnen nur durch Erinnerungen bleiben").
424
260, 11 Für wen die Wahrheit da ist.] Mit einem „Vielleicht" (260, 26)
kennzeichnet N. die folgenden Aussagen als spekulativ und experimentell. Er