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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0309
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294 Morgenröthe

Viertes Buch
Trotz des weitgehenden Zerfalls dieses Buchs in ein buntes Allerlei verschie-
denster Einfälle und Beiläufigkeiten gibt es einige Schwerpunkte. Eine Reihe
von Texten macht Musik sowie Kunst und Künstler zum Thema; verstärkt wen-
det sich N. überdies dem schon bisher mehrmals erörterten Komplex der
„Macht" und dessen Psychologisierung im „Gefühl der Macht" zu.

208
189,3 Gewissensfrage.] Hier variiert N. in metaphorischer Einkleidung ein
Thema, das er schon in M 11 und M 13 behandelt hatte: seine Kritik an den
„moralischen Vorurtheilen" über Schuld und Strafe als Ursache und Wirkung.

209
189, 7 Die Nützlichkeit der strengsten Theorien.] N. nimmt hier Ge-
danken aus einer seiner wichtigsten Quellen auf: aus Johann Julius Baumanns
Handbuch der Moral. Baumann setzt die moralische Praxis zur moralischen
Theorie folgendermaßen ins Verhältnis: „Je weniger oft solche Menschen im
Leben durch Moral sich auszeichnen, um so blühender und schwungvoller fal-
len, wohl unter der Einwirkung des psychologischen Gesetzes vom Contrast,
ihre Vorstellungsbilder von Moral aus. Aber auch die, welche nicht so sind, bei
denen der Unterschied zwischen moralischer Theorie und Praxis nicht so
klafft, befinden sich bei der theoretischen Feststellung der Moral in einer Ge-
fahr, an welche selten gedacht wird. Der contemplative Zustand, in welchem
sie da verweilen, ist demjenigen geistigen Thun sehr günstig, welches man
Idealisiren nennt" (Baumann 1879, 102). Baumann fährt fort: „Diese Discrepanz
von Theorie und Praxis in der Moral ist auch stets sehr aufgefallen, sie hat zu
vielerlei Versuchen theoretisch und praktisch geführt, selten aber zu richtigen.
Man sah in jenen Idealbildern das wahre und eigentliche Wesen des Men-
schen, das in der Praxis auf unbegreifliche Weise nur getrübt und gebrochen
zur Erscheinung komme, man fragte triumphirend, wie anders, denn als Ueber-
reste höherer Natur, man jene Idealbilder und ihre Werthschätzung erklären
wolle. Praktisch verfuhr man so, dass man von Jedem die strenge Theorie for-
derte, aber eine grosse Laxheit in der effectiven Bethätigung duldete, wenn
nicht gar, wie im Jesuitismus geschehen, dazu selbst Anleitung gab [...] Die
Praxis, nach der die Erwachsenen leben, hat sich neben und meist ganz unab-
hängig von dieser [in der Kindheit gelernten] theoretischen Moral herausgebil-
 
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