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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0310
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Stellenkommentar Viertes Buch, KSA 3, S. 189-190 295

det, dadurch, dass der Mensch, indem er die moralische Theorie seiner Umge-
bung annahm, zugleich in die davon abweichende effective Bethätigung der-
selben sich hineinlebte oder in die ihm selbst natürlichen und spontan
entstehenden Bethätigungen [...] Mit diesem Thun erzeugt sich auch eine dem-
selben entsprechende innere Gefühls- und Denkweise. Diese wird seine effecti-
ve Moral, während die theoretische Moral blos in bestimmten Stunden und in
gewissen ruhigen Stimmungen und für gewisse Gelegenheiten da ist (Sonn-
tagsmoral). [...] Nur das Eine verlangt man ferm [nachdrücklich], er soll bei
aller Abweichung seiner Praxis die herrschende moralische Theorie nicht an-
greifen" (Baumann 1879, 103 f.).

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189, 16 Das „an sich".] N. ersetzt in diesem Text die Schein-Objektivität
eines „an sich" durch eine psychologische Subjektivierung von „Seelenzustän-
den" (190, 2). Indem er das „an sich" zitathaft in Anführungszeichen setzt,
erinnert er an Kants zentrale Unterscheidung zwischen den Dingen, wie sie „an
sich" sind, und wie sie uns vermöge unserer Denk- und Anschauungsformen
„erscheinen". Von seiner Schopenhauer-Lektüre her war N. die Kantische
Theorie des „Dings an sich" bekannt, zumal Schopenhauer die Unterscheidung
zwischen Ding an sich und Erscheinung als „Kants größtes Verdienst" bezeich-
nete (WWV I: Anhang: „Kritik der Kantischen Philosophie", Schopenhauer
1873, Bd. 3, 494). N. bezieht diese erkenntnistheoretische Unterscheidung auf
ästhetische Fragestellungen, indem er sie auf den Unterschied zwischen dem
Lächerlichen und dem Lachen überträgt. Die in Klammern stehende Bemer-
kung „ein Theologe meinte sogar, dass es [sc. das Lächerliche] ,die Naivität
der Sünde' sei", spielt auf den Schweizer Theologen, Philosophen und Litera-
turhistoriker Alexandre Vinet (1797-1847) an, wie aus einem nachgelassenen
Notat hervorgeht: „Es giebt eine komische Definition des Komischen: es soll,
nach Vinet, die Naivetät der Sünde sein" (NL 1880, 3[67], KSA 9, 65).

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190, 10 An die Träumer der Unsterblichkeit.] Dieser Text soll die zent-
rale christlich-metaphysische Vorstellung von der Unsterblichkeit der Seele ad
absurdum führen. Die Wendung „mit einer mehr als christlichen Geduld" (190,
14 f.) spielt auf die in der christlichen Tugendlehre verankerte Hochschätzung
der Geduld an. Hauptzeugnisse dafür sind die Ermahnungen zur Geduld in den
Briefen des Paulus, die N. gut kannte. So heißt es, neben vielem Anderen, im
 
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