Stellenkommentar Drittes Buch, KSA 3, S. 185 293
admirari". Denn „admirari" meint bei Horaz das Bewundern eines begehrten
Gegenstands, weshalb er es mit dem Akkusativ (in diesem Fall: „nil" -
„nichts") verbindet; „mirari" dagegen heißt „sich (über etwas oder jemanden)
wundern, staunen". Im griechischen θαυμάζειν sind beide Bedeutungen mög-
lich; mit dem gegenstandsbezogenen Akkusativ verbunden heißt es: jemanden
oder etwas bewundern, sonst: sich wundern, oft mit dem in dem Platon-Zitat
und präziser noch in dem Aristoteles-Zitat liegenden Sinn: nicht wissen und
daher zu erfahren suchen, wie sich etwas verhält, weshalb dann oft eine indi-
rekte Frage oder, wie in dem Aristoteles-Zitat, ein εί („ob") folgt. Anders als N.
gibt Schopenhauer eine historisch zutreffende Erklärung, indem er die seman-
tische Differenz von „admirari" und „mirari" sowie den stoischen Kontext be-
achtet. Vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung I: „Ich habe bereits am Ende des
ersten Buches auseinandergesetzt, daß, meiner Ansicht nach, die Stoische
Ethik ursprünglich nichts, als eine Anweisung zu einem eigentlich vernünfti-
gen Leben, in diesem Sinne, war. Ein solches preiset auch Horatius wiederho-
lentlich an sehr vielen Stellen. Dahin gehört auch sein ,Nil admirari' und dahin
ebenfalls sein μηδεν αγαν. ,Nil admirari' mit ,Nichts bewundern' zu übersetzen
ist ganz falsch. Dieser Horazische Ausspruch geht nicht sowohl auf das Theore-
tische, als auf das Praktische, und will eigentlich sagen: ,Schätze keinen Ge-
genstand unbedingt, vergaffe dich in nichts, glaube nicht, daß der Besitz ir-
gend einer Sache Glücksäligkeit verleihen könne: jede unsägliche Begierde auf
einen Gegenstand ist nur eine neckende Chimäre, die man eben so gut, aber
viel leichter, durch verdeutlichte Erkenntniß, als durch errungenen Besitz, los
werden kann'. In diesem Sinne gebraucht das ,admirari' auch Cicero, De divi-
natione, II, 2." (Schopenhauer 1873, Bd. 2, 616)
Am Ende seines Textes wünscht sich N. von den Deutschen statt ihrer Ge-
horsamkeits-Moral den „Ungehorsam" (188, 25), mit dem sie etwas Neues errei-
chen könnten - und dieses Neue ist das, was N. selbst in der Morgenröthe als
„Immoralist" unternimmt, nämlich sich über die Moral erheben (188, 30 f.) -
Moral verstanden als „Herkommen", als normenbildende Konvention. Doch
will N. das Gehorchen durch das „Befehlen" (188, 32 f.) ersetzen (programma-
tisch heißt es: „etwas Neues thun, nämlich befehlen"; 188, 31 f.), ohne zu re-
flektieren, dass Befehlen auf der Seite des Adressaten das Gehorchen voraus-
setzt, ja geradezu will. Die Hinwendung zum „Befehlen", die in N.s späteren
Werken immer entschiedener zum Ausdruck kommt und im Wunsch nach „Ge-
setzgebern", „Befehlshabern" und „Führern" gipfelt (JGB 203, KSA 5, 126 und
JGB 211, KSA 5, 145), entspricht seiner eigenen dezisionistisch-autoritären -
wenn auch immer wieder vom Gestus der Selbstaufhebung gebrochenen - Ten-
denz. Symptomatisch hierfür ist der apodiktische Verkündigungsstil des Zara-
thustra und die immer häufigere Attitüde des Gesetzgebers.
admirari". Denn „admirari" meint bei Horaz das Bewundern eines begehrten
Gegenstands, weshalb er es mit dem Akkusativ (in diesem Fall: „nil" -
„nichts") verbindet; „mirari" dagegen heißt „sich (über etwas oder jemanden)
wundern, staunen". Im griechischen θαυμάζειν sind beide Bedeutungen mög-
lich; mit dem gegenstandsbezogenen Akkusativ verbunden heißt es: jemanden
oder etwas bewundern, sonst: sich wundern, oft mit dem in dem Platon-Zitat
und präziser noch in dem Aristoteles-Zitat liegenden Sinn: nicht wissen und
daher zu erfahren suchen, wie sich etwas verhält, weshalb dann oft eine indi-
rekte Frage oder, wie in dem Aristoteles-Zitat, ein εί („ob") folgt. Anders als N.
gibt Schopenhauer eine historisch zutreffende Erklärung, indem er die seman-
tische Differenz von „admirari" und „mirari" sowie den stoischen Kontext be-
achtet. Vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung I: „Ich habe bereits am Ende des
ersten Buches auseinandergesetzt, daß, meiner Ansicht nach, die Stoische
Ethik ursprünglich nichts, als eine Anweisung zu einem eigentlich vernünfti-
gen Leben, in diesem Sinne, war. Ein solches preiset auch Horatius wiederho-
lentlich an sehr vielen Stellen. Dahin gehört auch sein ,Nil admirari' und dahin
ebenfalls sein μηδεν αγαν. ,Nil admirari' mit ,Nichts bewundern' zu übersetzen
ist ganz falsch. Dieser Horazische Ausspruch geht nicht sowohl auf das Theore-
tische, als auf das Praktische, und will eigentlich sagen: ,Schätze keinen Ge-
genstand unbedingt, vergaffe dich in nichts, glaube nicht, daß der Besitz ir-
gend einer Sache Glücksäligkeit verleihen könne: jede unsägliche Begierde auf
einen Gegenstand ist nur eine neckende Chimäre, die man eben so gut, aber
viel leichter, durch verdeutlichte Erkenntniß, als durch errungenen Besitz, los
werden kann'. In diesem Sinne gebraucht das ,admirari' auch Cicero, De divi-
natione, II, 2." (Schopenhauer 1873, Bd. 2, 616)
Am Ende seines Textes wünscht sich N. von den Deutschen statt ihrer Ge-
horsamkeits-Moral den „Ungehorsam" (188, 25), mit dem sie etwas Neues errei-
chen könnten - und dieses Neue ist das, was N. selbst in der Morgenröthe als
„Immoralist" unternimmt, nämlich sich über die Moral erheben (188, 30 f.) -
Moral verstanden als „Herkommen", als normenbildende Konvention. Doch
will N. das Gehorchen durch das „Befehlen" (188, 32 f.) ersetzen (programma-
tisch heißt es: „etwas Neues thun, nämlich befehlen"; 188, 31 f.), ohne zu re-
flektieren, dass Befehlen auf der Seite des Adressaten das Gehorchen voraus-
setzt, ja geradezu will. Die Hinwendung zum „Befehlen", die in N.s späteren
Werken immer entschiedener zum Ausdruck kommt und im Wunsch nach „Ge-
setzgebern", „Befehlshabern" und „Führern" gipfelt (JGB 203, KSA 5, 126 und
JGB 211, KSA 5, 145), entspricht seiner eigenen dezisionistisch-autoritären -
wenn auch immer wieder vom Gestus der Selbstaufhebung gebrochenen - Ten-
denz. Symptomatisch hierfür ist der apodiktische Verkündigungsstil des Zara-
thustra und die immer häufigere Attitüde des Gesetzgebers.