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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0106
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Stellenkommentar Erstes Buch, KSA 3, S. 25-26 91

Medizin immer mehr disqualifiziert worden. Demnach dient die Analogisierung
von Volksmoral und Volksmedizin dazu, die Moral in Misskredit zu bringen.
12
25, 23 Die Folge als Zuthat.] Vgl. hierzu M 33 und NK hierzu.
13
26, 2 Zur neuen Erziehung des Menschengeschlechts.] Anspielung
auf die 1780 erschienene Schrift Lessings Die Erziehung des Menschenge-
schlechts. Darin entwickelt er eine Vorstellung vom geschichtlichen Fortschritt,
der sowohl zur Autonomie der Vernunft (durch die Reduktion von geoffenbar-
ten Wahrheiten auf Vernunftwahrheiten) wie zu einem autonomen morali-
schen Verhalten führt, aufgrund dessen der Mensch „das Gute tun wird, weil
es das Gute ist, nicht weil willkürliche Belohnungen darauf gesetzt sind" (Les-
sing 1867, Paragraph 85). N. verschiebt die Perspektive von der Vorstellung des
Guten auf die des Bösen und entsprechend von der fragwürdigen Belohnung
des Guten auf die ebenso fragwürdige Bestrafung des Bösen. In diesem Sinne
fordert er eine „neue" Erziehung des Menschengeschlechts. Auf den in den
Religionen und Rechtsvorstellungen seit jeher vorhandenen Begriff der Strafe
und dessen Interpretationen - als Vergeltung, Abschreckung, Schutzmaßnah-
me für die menschliche Gemeinschaft u. a. - sowie auf die moderne Straf-
rechtsdiskussion geht zwar erst M 202 im Anschluss an zeitgenössische Theori-
en ein. Dass N. der Tradition des Straf-Begriffs anlastet, sie habe „die ganze
reine Zufälligkeit des Geschehens um ihre Unschuld gebracht" (26, 9 f.), erin-
nert allerdings an archaische und mythische Strafvorstellungen, wie sie etwa
in der Geschichte vom Sündenfall und der auf ihn folgenden göttlichen Strafe
vorherrschen. Die Aussage: „Ja, man hat die Tollheit so weit getrieben, die
Existenz selber als Strafe empfinden zu heissen" (26, 11-13), deutet ebenfalls
auf solche vormoderne, insbesondere in den Religionen verankerte Vorstellun-
gen hin. So lässt die auf den Sündenfall als Strafe folgende Vertreibung aus
dem Paradies zugleich die ganze menschliche Existenz als Strafe erscheinen,
weil sie von Not und Mühsal gezeichnet ist.
14
26, 17 f. Bedeutung des Wahnsinns in der Geschichte der Morali-
tät.] Dieser Text ist wiederum nicht spezifisch aphoristisch, sondern entwi-
ckelt im Erörterungsstil eine kulturgeschichtliche Reflexion mit engen autobio-
 
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