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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0107
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92 Morgenröthe

graphischen Bezügen. Sie hat zwei Schwerpunkte: Erstens adaptiert N. eine
zeitgenössische, wenn auch teilweise schon auf ältere Tradition zurückgehen-
de Mode-Theorie, derzufolge „Genie und Wahnsinn" eng zusammengehören.
Zweitens konzentriert er die Leistung des durch seine Disposition zum Wahn-
sinn ausgezeichneten Genies auf die daraus resultierende Fähigkeit zu bahn-
brechenden neuen Gedanken. Explizit bezieht dies N. in euphorisch überstei-
gertem Ton, als schon akut vom Wahnsinn Bedrohter, in Ecce homo auf sich
selbst (EH ,Warum ich ein Schicksal bin' 8, KSA 6, 373, 14-20). In der Morgen-
röthe meint er implizit seine eigene Schrift, welche die alten moralischen Vor-
urteile aufheben und zu einer neuen, höheren „Moralität" durchbrechen soll.
Leitmotivisch betont er diesen Durchbruch zu Neuem: „fast überall ist es der
Wahnsinn, welcher dem neuen Gedanken den Weg bahnt" (26, 26 f.); „Begreift
ihr es, weshalb es der Wahnsinn sein musste? [...] Etwas, das dem Träger eines
neuen Gedankens selber Ehrfurcht und Schauder vor sich und nicht mehr Ge-
wissensbisse gab und ihn dazu trieb, der Prophet und Märtyrer desselben zu
werden?" (26, 29-27, 7); „allen jenen überlegenen Menschen, welche es unwi-
derstehlich dahin zog, das Joch irgend einer Sittlichkeit zu brechen und neue
Gesetze zu geben, blieb, wenn sie nicht wirklich wahnsinnig wa-
ren, Nichts übrig, als sich wahnsinnig zu machen oder zu stellen - und zwar
gilt diess für die Neuerer auf allen Gebieten" (27, 15-21).
Wie in mehreren anderen Texten der Morgenröthe orientierte sich N. auch
mit dieser Vorstellung eines Durchbruchs zum „Neuen", zu dem gerade der
Wahnsinn befähige, u. a. an dem Werk des englischen Psychiaters Henry
Maudsley: Die Zurechnungsfähigkeit der Geisteskranken (1875). Maudsley
schreibt dort im Kapitel über „Das Grenzgebiet" zwischen geistiger Gesundheit
und Geisteskrankheit über Menschen, welche die Disposition zum Wahnsinn
in sich tragen: „Der mit Irrsinnstemperamente Ausgestattete kann je nach den
besondern Umständen wirklich irrsinnig werden, oder der Welt neue Ideen
und neue Thaten vorführen" (Maudsley 1875, 53). Insbesondere interessiert
sich Maudsley für den von potentiell Irrsinnigen ausgehenden Impuls zu gro-
ßen Reformen: „Wir sehen aber auch in der That, dass unter den grossen theo-
retischen und praktischen Reformen manche vorkommen, deren Herbeifüh-
rung von Personen ausging, in deren Familie Irrsinnigkeit vorkam, während in
andern Fällen die Reformatoren selbst als Irrsinnige gelten müssen. Unsere
Unwissenheit statuirt für solche Individuen eine accidentelle Variation der
Geistesthätigkeit, und je nach den Umständen verfällt diese dem Untergange
oder sie führt eine neue Entwickelung herbei" (Maudsley 1875, 48).
Nach den antiken Zeugnissen, denen zufolge dem Wahnsinn besondere
Errungenschaften zu verdanken sind - N. führt als prominentes Beispiel Pla-
tons Phaidros an (244 a-b) -, und nach den neuzeitlichen Adaptationen und
 
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