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Schmidt, Jochen; Kaufmann, Sebastian; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 3,1): Kommentar zu Nietzsches "Morgenröthe" — Berlin, Boston: de Gruyter, 2015

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https://doi.org/10.11588/diglit.70911#0129
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114 Morgenröthe

zugrunde liegt eine Umkodierung des jüdischen Gesetzesbegriffs durch Paulus.
Er fragt rhetorisch, durch welches Gesetz der Mensch vor Gott gerechtfertigt
erscheint: „Durch welches Gesetz (νόμος)? Durch das der Werke?", und er ant-
wortet: „Nein, durch das Gesetz des Glaubens" (ούχί, άλλά διά νόμου πίστεως;
Röm. 3, 27). Und er folgert: „So halten wir nun dafür, daß der Mensch gerecht
werde ohne des Gesetzes Werke" (δικαιοϋσθαι πίσθει άνθρωπον χωρίς έργων
νόμου). Die in der Lutherbibel anschließende Wendung „allein durch den
Glauben" fehlt im Urtext, sie ist eine verdeutlichende Hinzufügung Luthers,
die aus dem Vorhergehenden folgt. Fundiert ist diese Auffassung im Römer-
brief durch die christliche Zentrallehre von Erlösung und Gnade (Römer 3, 24:
„Und werden ohne Verdienst [d. h.: nicht aufgrund von Werken] gerecht aus
seiner Gnade durch die Erlösung, so durch Christum Jesum geschehen ist").
Die Umkodierung des jüdischen Gesetzesbegriffs durch Paulus wird im ab-
schließenden Vers des 3. Kapitels des Römerbriefs besonders deutlich, auch
als Sorge vor dem Vorwurf des Gesetzesbruchs: „Wie? Heben wir denn das Ge-
setz auf durch den Glauben? Das sei ferne! sondern wir richten das Gesetz auf"
(μή γένοιτο, άλλά νόμον ίστάνομεν).
N.s Interpretation sowohl der Aussagen des Römerbriefs wie der davon
ausgehenden Lehre Luthers lässt erkennen, dass er seine eigene Intention
schärfer zur Geltung bringen will, die auf die „That" (als Äquivalent der „Wer-
ke") abhebt. Problematisch ist auch N.s Hinweis auf Sokrates und Platon, de-
ren Tugendlehre er mit der - angeblich - protestantischen Lehre zu analogisie-
ren versucht, „dass aus dem Glauben die Werke nothwendig folgen müssen".
Diese Behauptung stellt N. nur auf, um sie folgendermaßen zurückweisen zu
können: „Diess ist schlechterdings nicht wahr, aber klingt so verführerisch,
dass es schon andere Intelligenzen, als die Luther's (nämlich die des Sokrates
und Plato) bethört hat [...] Das zuversichtlichste Wissen oder Glauben kann
nicht die Kraft zur That, noch die Gewandtheit zur That geben" (34, 5-11). Auch
die Analogisierung des biblischen „Glaubens" mit dem sokratisch-platoni-
schen „Wissen" ist problematisch, da der Glaube gerade kein Wissen ist. Pau-
lus sagt im Römerbrief (7, 15-18), dass er das Gute erkennt, aber dennoch nicht
tut: „Denn ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will; son-
dern, was ich hasse, das tue ich [...] Wollen habe ich wohl, aber Vollbringen
das Gute finde ich nicht". („Wollen" ist hier als Folge der Erkenntnis begriffen,
bleibt aber wie diese machtlos.) Der Grund von N.s Analogisierung liegt im
Bereich der „Moral": in der sokratisch-platonischen Verbindung des Wissens
mit dem ethisch richtigen Handeln. Die Übertragung des Zweifels an dieser
Verbindung auf den Protestantismus hat wahrscheinlich zu der schon erläuter-
ten Deformierung des im Römerbrief und bei Luther statuierten Verhältnisses
von gesetzestreuer, aber bloß äußerlicher Werkgerechtigkeit einerseits und ei-
 
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